Kontaktwiderstände des Kindes nach der Trennung der Eltern: Ursache, Wirkung und Umgang

Kontaktwiderstände des Kindes nach der Trennung der Eltern: Ursache, Wirkung und Umgang
von Liselotte Staub, Dr. phil., Psychologin und Psychotherapeutin FSP, Bern
(ZKE 5/2010 S. 349-364)



Kinder in der Voradoleszenz (8 bis 12 Jahre) sind am meisten gefährdet, zwischen die Fronten ihrer zerstrittenen Eltern zu geraten. Die geistige und moralische Entwicklung erlaubt ihnen nun, den Loyalitätserwartungen ihrer Eltern zu entsprechen.

Resultate einer Langzeitstudie haben ergeben, dass Jugendliche, welche die negativen Gefühle einem Elternteil gegenüber erst im Alter von 12 bis 15 Jahren entwickelt haben – d.h. nach abgeschlossener Stirnhirnentwicklung – die besseren Chancen haben, sich dem abgelehnten Elternteil später wieder anzunähern, als wenn diese Gefühle früher entwickelt worden sind.

Wenn ein Kind erklärt, dass es nicht mehr in die Schule gehen will oder eine notwendige ärztliche Untersuchung verweigert, ist dieser Widerstand in der Regel eine Reaktion auf eine reale Erfahrung oder der Ausdruck einer Angst im Sinne einer antizipierten Annahme. Obwohl die Respektierung des kindlichen Willens vorübergehend Erleichterung schaffen würde, käme es keinem vernünftigen Elternteil in den Sinn, das Kind von der Schule fernzuhalten oder auf eine notwendige ärztliche Untersuchung zu verzichten. Vielmehr gilt es, den Grund für die Verweigerung zu identifizieren und auszuschalten oder zu neutralisieren. Das gleiche Vorgehen ist auch angezeigt, wenn Kinder den Kontakt zum anderen Elternteil ablehnen oder verweigern.

Abgesehen davon, dass eine Kontrolle, die nur mittels Spaltungsvorgängen hergestellt werden kann, eine hoch-pathologische Konfliktlösung ist, bedeutet die emotionale Kündigung der Beziehung zu einem Elternteil, sich um einen Teil seiner Identität zu bringen. Das Kind muss fortan einen Teil von sich selber verleugnen, weil dieser Teil als „schlecht“ oder „böse“ wahrgenommen wird. Dieser unbewusste Spaltungsvorgang braucht nicht nur viel psychische Energie, sondern wirkt wie jeder Verdrängungsmechanismus nur unvollständig.

Wenn im Verlauf der induzierten Entfremdung die Erwartungen an den „guten“ Elternteil, dessentwegen man viel geopfert hat, ins Unermessliche steigen, kann es im besten Fall aufgrund von zwangsläufigen Enttäuschungen zu Schwierigkeiten in der Beziehung zum „guten“ Elternteil kommen. Im schlechtesten Fall bleibt das Kind mit dem „guten“ Elternteil symbiotisch verstrickt und wird sich nicht von diesem lösen können, um sich auch anderen Menschen zuzuwenden. Offenbar stehen die Chancen besser, wenn die vorwiegend negativen Gefühle für einen Elternteil während der Adoleszenz bzw. zwischen 12 und 15 Jahren entstanden sind.

Die Vorstellung, dass es im ersteren, besten Fall zu einer Wiederannäherung zwischen dem abgelehnten Elternteil und dem Jugendlichen oder Erwachsenen kommt, ist eher Wunschdenken als Realität. Empirische Befunde zeigten, dass der akute Entfremdungsprozess ca. 6 Jahre dauert und die Beziehungslosigkeit zum abgelehnten Elternteil danach in mehr als 50 % aller Fälle mehr als 22 Jahre andauert. Die klinische Erfahrung zeigt, dass sich diese heranwachsenden Kinder sehr wohl daran erinnern, wie sie sich damals den Wünschen des abgelehnten Elternteils nach Kontakt sowohl mündlich als auch schriftlich widersetzt haben oder diesen sogar zur Unperson erklärt haben. Schuldgefühle sind nicht selten dafür verantwortlich, wenn der Kontakt mit dem abgelehnten Elternteil später nicht aufgenommen wird. Schliesslich muss der heranwachsende Jugendliche oder Erwachsene damit rechnen, dass auch der abgelehnte Elternteil seine Gründe hat , warum er im Erwachsenenalter seines Kindes keinen Wunsch mehr nach Kontakt verspürt bzw. einen solchen ablehnt: Sein Kind ist ihm fremd geworden oder er hat zu viele Verletzungen ertragen müssen.

Der wichtigste Befund der Studie von Baker in Bezug auf die Frage, wie induzierten Entfremdungsprozessen begegnet werden soll, ist die Beobachtung, dass die meisten Erwachsenen sich an ihren Hass und die Ablehnung ihres anderen Elternteils erinnerten, dass sie sich aber wünschten, dass der abgelehnte Elternteil weiter um den Kontakt kämpft und dass sie insgeheim hofften, dass jemand realisiert, dass sie nicht meinten, was sie sagten. Diese Befunde decken sich mit eigenen klinischen Erfahrungen mit erwachsenen Therapiepatienten, aber auch mit früheren Befunden. Clawar und Rivlin berichteten vor 10 Jahren, dass 80 % der entfremdeten Kinder insgeheim wünschen, dass die Entfremdung aufgedeckt und gestoppt wird.

Zur Verhinderung oder Bekämpfung von sowohl akuten Symptomen im Rahmen eines Besuchsrechtssyndroms als auch psychischen Spätfolgen einer Entfremdung von einem Elternteil wird von den Eltern vom Gesetz eine hinreichende Bindungstoleranz gefordert und das Bundesgericht schlägt vor, die Besuchsvereitelung strafrechtlich klarer zu regeln. Eltern müssen sich bewusst sein, dass die Entscheidung über die Elternkontakte nicht dem Kind überlassen werden darf.

Die Autorin:
Liselotte Staub ist selbstständige Psychotherapeutin und Spezialistin für familienrechtspsychologische Fragen im
zivilrechtlichen Kindesschutz. Als solche erstellt sie Gutachten, publiziert und hält regelmässig Referate zum Thema Scheidung und Kindeswohl. Sie ist gewählte Fachrichterin am Kindes- und Erwachsenenschutzgericht des Kantons Bern.

Kontakt:
Dr. phil. Liselotte Staub
Psychologin und Psychotherapeutin FSP
Eisenbahnweg 6.
3426 Aefligen
kontakt[@]staub-psychologie.ch
www.staub-psychologie.ch


Staub-Psychologie.ch


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