Familienrecht: «Das ist keine Diskriminierung»

Das Bundesgericht hat jüngst mit Urteilen zum Sorgerecht und zur Leihmutterschaft für Aufsehen gesorgt. Ein Gespräch mit Bundesrichter Nicolas von Werdt, dem Präsidenten der zuständigen Abteilung. (Von Katharina Fontana)

In seinem ersten Grundsatzurteil zum gemeinsamen Sorgerecht hat das Bundesgericht festgehalten, dass bereits ein «schwerwiegender Dauerkonflikt» unter den Eltern reicht, damit die elterliche Sorge Mutter oder Vater allein zugeteilt wird. Was sagen Sie zur Kritik, dass das Bundesgericht damit das neu eingeführte Sorgerecht unterlaufe?

Es ist sicher zum Vorteil der Kinder, wenn sich beide Eltern nach der Trennung um sie kümmern und zu ihrer Erziehung beitragen. Der Gesetzgeber hat diese Prämisse mit dem gemeinsamen Sorgerecht für geschiedene oder unverheiratete Eltern als Grundsatz in das Gesetz überführt, und das Bundesgericht trägt dieser geänderten Rechtslage Rechnung. Es besteht jedoch kein absoluter Anspruch der Eltern auf die gemeinsame elterliche Sorge, was sich schon aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt. Wenn das Verhältnis zwischen den Eltern das Kindeswohl wesentlich beeinträchtigt, ist eine Ausnahme vom Grundsatz gerechtfertigt.

Wie schwerwiegend muss der Konflikt sein, damit das Sorgerecht einem Elternteil allein zugeteilt wird?

Klar ist, dass echte, konkrete Probleme bezogen auf Kinderbelange vorliegen müssen. Dass sich Mutter und Vater im Scheidungsverfahren über die elterliche Sorge streiten, reicht nicht. Entscheidend ist, ob sich die Differenzen der Eltern negativ auf das Kind auswirken. Es gibt Kinder, die können gut mit den andauernden Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Vater umgehen. Andere hingegen leiden stark darunter, was sich in verschiedensten Formen manifestieren kann. In einem solchen Fall muss man ernsthaft prüfen, ob das Sorgerecht einem Elternteil allein zustehen soll. Und grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Bedeutung die gemeinsame elterliche Sorge überhaupt noch haben kann, wenn die Eltern nicht miteinander über die Kinderbelange sprechen können oder sich nie einig werden.

Bei Vätern gibt es Befürchtungen, dass eine Mutter, indem sie sich querlegt und Konflikte provoziert, das gemeinsame Sorgerecht verhindern kann.

Ob der Konflikt von einem Elternteil oder von beiden Eltern ausgeht oder ob der Anlass zum Streit objektiv begründet und nachvollziehbar ist, spielt aus der Optik des Kindes keine Rolle. Wenn es unter dem Dauerstreit von Mutter und Vater leidet, muss eine Lösung gesucht werden, die es aus dieser Lage befreit. Sollte sich ein Elternteil allerdings grundlos querlegen, stellt er damit seine Erziehungsfähigkeit infrage und riskiert, dass das Sorgerecht dem andern Elternteil zugeteilt wird.

Wenn Eltern, die das Sorgerecht gemeinsam ausüben, sich nicht einigen können, müssen die Behörden und Gerichte einspringen. Wie gelingt es einem Richter herauszufinden, was konkret im Sinne des Kindeswohls ist?

Das ist mitunter schwierig. Da hat sich beispielsweise ein Elternpaar darüber gestritten, ob das Kind das Gymnasium besuchen oder eine Lehre absolvieren soll. Bei einem anderen Fall ging es darum, ob das Kind in die Basisstufe oder die traditionelle Schule eingeschult werden soll. In solchen Situationen fehlen konkrete Massstäbe, anhand deren über die Frage des Kindeswohls entschieden werden kann. Vollends nicht mehr justiziabel wird es, wenn sich Mutter und Vater darin uneinig sind, welchen von zwei Kindergärten der Gemeinde ihr Kind besuchen soll. Hier stellt sich letztlich die Frage, ob es nicht doch besser wäre, wenn nur einer der beiden Elternteile über den strittigen Punkt entscheiden würde.

Das Sorgerecht könnte also aufgeteilt werden? Der Vater würde beispielsweise über den Religionsunterricht des Kindes entscheiden und die Mutter darüber, welche Hobbys es ausüben darf?

In unserem Grundsatzurteil haben wir das als mögliches Modell bezeichnet. Wenn man den einen Elternteil für einen bestimmten Lebensbereich als allein zuständig erklärt, ohne dem andern das Sorgerecht generell zu entziehen, lassen sich die punktuellen Differenzen unter ihnen lösen. So können wir vermeiden, dass die Eltern ihre Meinungsverschiedenheiten regelmässig vor die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde oder vor das Gericht bringen.

Von Männerseite ist oft zu hören, dass Väter bei der Zuteilung der Obhut benachteiligt würden. Was sagen Sie?

Die Behörden müssen diejenige Lösung suchen, die dem Wohl des Kindes am besten Rechnung trägt. Wenn also das Kind bei der Mutter besser aufgehoben ist als beim Vater, dann tragen wir dem Rechnung, umgekehrt auch. Sind die Eltern ungefähr gleich geeignet, kommt das Kriterium der Stabilität der Verhältnisse ins Spiel. Dem Kind ist insgesamt umso besser gedient, je weniger Veränderungen es – zusätzlich zur Trennung der Eltern – erfahren muss. Deshalb soll das während der Beziehung gelebte Modell später nach Möglichkeit beibehalten werden und das Kind im Zweifel bei dem Elternteil bleiben, der es bisher zur Hauptsache betreut hat; je kleiner das Kind, desto wichtiger ist das.

Das heisst, dass vor allem kleine Kinder meist der Mutter zugeteilt werden.

Ja. Das ist die Folge davon, dass sich die Eltern in der Schweiz – wie übrigens allgemein in Europa – nach wie vor häufiger darauf einigen, dass die Mutter die persönliche Pflege und Betreuung der Kinder übernimmt. Das hat aber nichts mit Diskriminierung zu tun: Wir behandeln den Hausmann, der sich nach der Scheidung weiterhin um die Kinder kümmern will, gleich wie die Hausfrau.

Und wenn ein Mann, der als Ehemann die Familie ernährt hat, nach der Scheidung weniger zahlen und sich mehr um die Kinder kümmern will?

Es kommt vor, dass Väter nicht mehr Vollzeit arbeiten und stattdessen ein oder zwei Tage pro Woche zum Kind schauen wollen – mit der Folge, dass sie keinen Unterhalt mehr zahlen können. Das akzeptieren wir nicht einfach so. Die Trennung berechtigt einen Elternteil nicht dazu, sich völlig neu zu organisieren. Das heisst umgekehrt aber auch, dass berufstätige Mütter, die sich die Kinderbetreuung mit dem Mann teilen, nach der Trennung nicht plötzlich fordern können, nun ganztags zu den Kindern zu schauen. Mit dem revidierten Unterhaltsrecht werden die Gerichte ab 2017 aber verpflichtet sein, die Möglichkeit einer alternierenden Obhut zu prüfen, wenn ein Elternteil oder das Kind dies verlangt.

Ein anderes Thema: Das Bundesgericht lehnt es ab, Paare, die durch Leihmutterschaft im Ausland zu einem Kind gekommen sind, in der Schweiz als Eltern anzuerkennen. Kritiker wenden ein, dass diese Haltung gegen das Kindeswohl verstosse, da die rechtliche Anerkennung im Interesse der Kinder sei.

Wenn die Wunscheltern keinen genetischen Bezug zum Kind haben, liegen wir von der Sache her sehr nahe bei der Adoption. Bei Adoptionen können die Behörden vorweg abklären, ob das Kind in gute Hände kommt. Bei der Leihmutterschaft ist das nicht möglich. Wenn es nun heisst, wir müssten mit Blick auf das Kindeswohl die Elternschaft in jedem Fall anerkennen, dann sollte man an die möglichen Konsequenzen denken. Denn dann könnten sich Personen als Eltern eintragen lassen, die hierzu offensichtlich nicht geeignet sind.

Also etwa Paare, die vom Alter her schon längstens nicht mehr als biologische Eltern infrage kommen?

Zum Beispiel.

Das Bundesgericht scheint sich speziell am bewussten Rechtsbruch zu stören: Dass ein Paar eigens in der Absicht ins Ausland reist, das in der Schweiz geltende Verbot der Leihmutterschaft zu umgehen.

Ja, das ist so. Das ist ein klarer Missbrauch, und der gehört nicht geschützt. Es gibt in der Schweiz Paare, die als Eltern eines durch eine Leihmutter geborenen Kindes anerkannt sind. Diese Personen haben aber vorher im Ausland gelebt und von den dort zulässigen Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin Gebrauch gemacht, das ist eine andere Situation.

Im letzten Jahr sorgte ein für den Bund erstelltes Gutachten der Professorin Ingeborg Schwenzer für Schlagzeilen, das radikale Ideen rund um Ehe und Familie propagierte. Was meinen Sie: Soll das Familienrecht möglichst «fortschrittlich» sein, oder soll es erst dann angepasst werden, wenn sich die gesellschaftlichen Lebensanschauungen gewandelt haben?

Dieser Entscheid liegt beim Gesetzgeber und nicht bei den Gerichten. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Familie – ob die Eltern verheiratet sind oder nicht – die Stütze der Gesellschaft ist. In der Familie lernt man, Verantwortung zu übernehmen und solidarisch zu sein, was letztlich der Gesellschaft zugutekommt. Es bleibt aber ein politischer Entscheid, ob und in welchem Umfang der Staat bestimmte Familienstrukturen fördern und schützen will.


NZZ.ch


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