Kinder brauchen beide Eltern – das verhindert nach einer Trennung nicht selten die Mutter

Fünf Prozent der rund 12’400 Kinder, die jährlich von einer Trennung oder Scheidung der Eltern betroffen sind, werden manipuliert, in 90 Prozent der Entfremdungsfälle ist die Mutter dafür verantwortlich.

Es stecken Tragödien dahinter. Es verändert Leben, Biografien. 500 bis 700 Kinder werden jedes Jahr von einem Elternteil entfremdet. Kinder, die ihren Vater, seltener ihre Mutter, nicht mehr sehen und erleben dürfen. Diese Zahl erhebt die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz.

Fünf Prozent der rund 12’400 Kinder, die jährlich von einer Trennung oder Scheidung der Eltern betroffen sind, werden manipuliert, in 90 Prozent der Entfremdungsfälle ist die Mutter dafür verantwortlich.

Die Gründe, warum ein Kind sich von einem geliebten Elternteil abwendet, können laut der Kindesschutzorganisation Schweiz, Kisos, Schuldgefühle, Loyalitätskonflikte und Verlustängste sein. Das Kind steht im Mittelpunkt des Elternkonflikts, denkt, es sei der Anlass zum Streit und gibt sich die Schuld daran.

Dabei erlebt es widersprüchliche Gefühle. Es möchte beide Eltern sehen. Spricht es aber seine Gefühle aus («Ich will zu Papa»), hat es Angst, die Mutter zu verletzen, traurig zu machen und/ oder sie zu verlieren.

Das Kind übernimmt die Gefühle desjenigen Elternteils, bei dem es häufiger ist. Es spaltet sich, auch aus Selbstschutz, von dem ausserhalb lebenden Elternteil ab. Laut Psychiater Wilfrid von Boch-Galhau würden dabei meist liebevolle, ganz normale, oft kompetente Eltern abgelehnt und nicht etwa misshandelnde oder missbrauchende.

Gerichte machen bei Streit mit

Mehr als 50 internationale Studien belegen, dass es besser für Kinder ist, wenn sie nach Trennungen der Eltern immer noch von beiden betreut werden und mit Vater und Mutter Kontakt haben. Trotzdem tendieren Gerichte und Behörden hierzulande dazu, Eltern über Monate oder gar Jahre hinweg über Obhuts- und Besuchsrechtsfragen streiten und prozessieren zu lassen.

Oft wird dann dem Elternteil, bei dem das Kind hauptsächlich lebt, das alleinige Sorgerecht übertragen. Angeblich, damit das Kind endlich zur Ruhe komme. Doch es ist eine trügerische Ruhe. Kinderarzt und Buchautor Remo Largo schreibt: «Durch ihre Passivität unterstützen Behörden und Gerichte jenen Elternteil, der mit seiner unkooperativen Strategie dem Kind schweren psychischen Schaden zufügt.»

Laut Kisos können Kinder unter anderem an ADHS leiden, an Bindungs- und Vertrauensstörungen, vermindertem Selbstbewusstsein bis hin zu Angstzuständen, schweren psychischen- und psychosomatischen Störungen, Essstörungen und Suchterkrankungen im Erwachsenenalter.

Der kanadische Professor Edward Kruk, Präsident des Internationalen Rats für gemeinsame Elternschaft, sagt: «Es ist ein Problem, dass eine Mehrheit der Psychologen und Rechtsexperten im hoch spezialisierten Bereich der Entfremdung nicht oder nur wenig geschult ist.» Verschiedene Studien haben ergeben, dass es für die psychische Gesundheit der Kinder dringend nötig wäre, die Entfremdung zu unterbrechen und den Kontakt zum entfremdeten Elternteil wieder herzustellen.

Dies kann durch vorgeschriebene Mediationen geschehen, durch Eltern-Kind-Wiedervereinigungs-Programme oder, im äussersten Fall, durch einen Wechsel des Sorgerechts. Die Studien zeigen, dass sich die Kinder sehr bald wieder emotional mit dem zurückgewiesenen Elternteil verbunden haben.

Erfolg mit Zwang zur Beratung

Laut Jürgen Rudolph, ehemaliger Richter am Familiengericht in Chochem (D), werden Kinder bei Gericht unangemessen behandelt: «Wird ein Kind strittiger Eltern angehört, muss es einen Elternteil verraten, das verursacht einen ungeheuren Loyalitätskonflikt. Und das ist Kindesmisshandlung.»

Vor beinahe 30 Jahren hat Rudolph die «Chochemer-Praxis» eingeführt. Das Grundprinzip des Modells lautet: beschleunigtes Verfahren (Verhandlung innert 14 Tagen) und interdisziplinäre Zusammenarbeit von geschulten Richtern, Anwälten, Psychologen und Fachleuten des Jugendamts.

Alle Fachleute haben ein gemeinsames Ziel: den Eltern zu einer Lösung zu verhelfen. Finden sie keine Einigung, werden die Eltern solange in die Beratung geschickt, bis sie eine Lösung finden. Da alle beteiligten Professionen an einem Strick ziehen, gibt es keinen Raum mehr, um schmutzige Wäsche zu waschen, der Konsens der Eltern ist ein Muss.

Weniger Folgeprozesse

«Das Modell erwies sich als äusserst erfolgreich», so Jürgen Rudolph. Kritiker monieren den Zwang zur Beratung und das beschleunigte Verfahren, das an Gerichten grösserer Städte aus Kapazitätsgründen nicht umsetzbar sei. Dazu Rudolph: «Mit 50 Prozent der Elternpaare konnte bereits beim ersten Gerichtstermin eine Lösung gefunden werden.»

Dadurch entfallen Folgeprozesse und es entsteht Kapazität für andere Fälle. Die meisten anderen Elternpaare konnten durch die verordnete Beratung eine Lösung finden. Sperrt sich ein Elternteil weiter, verordnete das Gericht im äussersten Fall einen Obhutsentzug.

Die Chochemer-Praxis wurde in diversen Familiengerichten in Deutschland übernommen und gewann landesweit an Anerkennung. Elemente davon wurden 2009 in das Familienverfahrensgesetz übernommen. In Kalifornien wird die obligatorische Sorgerechts-Mediation seit den 80er-Jahren durchgeführt. In Kanada, England, Teilen der USA und Australien werden mit entsprechenden Modellen ebenfalls gute Ergebnisse erzielt.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat die Mitgliedsstaaten aufgefordert, die fachübergreifende Zusammenarbeit nach dem Vorbild der Chochemer-Praxis zu bevorzugen und strittige Eltern zur obligatorischen Beratung zu verpflichten. Zwar kennen Gerichte und Fachleute in der Schweiz entsprechende Mediationsangebote, doch einer angeordneten Beratung stehen Gerichte und Behörden skeptisch gegenüber.


Aargauerzeitung.ch


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
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