COVID-19 oder DES KAISERS NEUE KLEIDER

DES KAISERS NEUE KLEIDER

Vor vielen Jahren lebte einmal ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf schöne neue Kleider gab, dass er all sein Geld verschwendete, um recht geputzt zu sein. Er machte sich nichts aus seinen Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater und wollte nicht in den Wald spazierenfahren, ausser um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte für jede Stunde des Tages ein anderes Kleid, und ebenso, wie man sonst von einem Könige sagte, er ist im Rate, so hiess es hier stets: „Der Kaiser ist im Kleiderschrank!“

In der grossen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr vergnüglich her. Jede Tag kamen viele Fremde dorthin; eines Tages kamen auch zwei Betrüger. Sie gaben sich als Weber aus und sagten, dass sie es verstünden, das schönste Zeug zu weben, das man sich denken könne. Nicht nur wären die Farben und das Muster ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die aus diesem Zeug genäht würden, hätten die wunderbare Eigenschaft, dass sie für jeden Menschen unsichtbar wären, der nicht für sein Amt tauge oder unerlaubt dumm sei. „Das wären ja prächtige Kleider,“ dachte der Kaiser, „wenn ich die anzöge, wollte ich wohl dahinterkommen, welche Männer in meinem Reich nicht für ihr Amt tauglich sind; ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, dies Zeug soll sogleich für mich gewebt werden!“ und gab den beiden Betrügern reichliches Handgeld, damit sie mit ihrer Arbeit beginnen möchten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das mindeste auf den Stühlen. Frischweg verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold; das steckten sie in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen und zwar bis in die späte Nacht. „Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeug sind!“ dachte der Kaiser, aber es war ihm doch ein wenig beklommen ums Herz bei dem Gedanken, dass der, der dumm sei oder nicht für sein Amt tauge, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar nicht, dass er für sich selbst bange zu sein brauche, aber er wollte doch sicherheitshalber erst einen anderen hinschicken, um zu sehen, wie es damit stand. Alle Menschen in der ganzen Stadt wuten, welche seltsame Kraft dem Zeug innewohnte, und alle waren begierig zu sehen, wie untauglich oder dumm sein Nachbar wäre.

Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern schicken!“ dachte der Kaiser, „er kann am besten übersehen, wie sich das Zeug ausnimmt, denn er hat Verstand, und niemand versteht sein Amt besser, als er! “Nun ging der alte, gute Minister in den Saal, wo die beiden Betrüger sassen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. „Gott bewahre!“ dachte der alte Minister und riss die Augen auf, „ich kann ja nichts sehen!“ Aber das sagte er nicht. Die beiden Betrüger baten ihn, freundlichst näher zu treten und fragten, ob es nicht ein schönes Muster und prächtige Farben seien. Dabei zeigten sie auf die leeren Webstühle, und der arme, alte Minister riss die Augen immer weiter auf, konnte aber nichts erblicken, denn da war eben nichts. „Herr, mein Gott!“ dachte er, „sollte ich dumm sein? Das hätte ich nie geglaubt, und es darf auch kein Mensch wissen! Sollte ich nicht für mein Amt taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könnte das Zeug nicht sehen!“

Nun, Sie sagen ja nichts dazu!“ sagte der eine, der dort webte. „O, es ist reizend, ganz allerliebst!“ sagte der alte Minister und sah durch seine Brillen, „dies Muster und diese Farben! – ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir ausgezeichnet gefällt!“ „Nun, das freut uns!“ sagte die beiden Weber, und dann nannten sie die Farben bei Namen und auch die seltsamen Muster. Der alte Minister passte gut auf, damit er das gleiche sagen könnte, wenn er zum Kaiser zurückkäme, und das tat er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, da sie es zum Weben gebrauchen wollten. Sie steckten alles in die eigene Tasche, auf den Webstuhl kam nicht ein Faden, und sie webten, wie zuvor, auf den leeren Stühlen. Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen ehrlichen Höfling hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben fortschritte, und ob das Zeug bald fertig sei. Ihm erging es wie dem Minister, er guckte und guckte, aber da ausser den leeren Webstühlen nichts da war, konnte er nichts erblicken. „Ja, ist es nicht ein schönes Stück Zeug!“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das herrliche Muster, das gar nicht da war. „Dumm bin ich nicht!“ dachte der Mann, „es ist also das Amt, für das ich nichts tauge! Das ist merkwürdig genug! Aber da darf man sich nichts anmerken lassen!“ und so lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte sein Vergnügen über die schöne Färbung und das herrliche Muster. „Ja, es ist wirklich ganz allerliebst!“ sagte er zum Kaiser.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeug. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl war. Mit einer ganzen Schar auserlesener Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Ratgeber waren, die schon früher dagewesen waren, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Fade und Durchschuß . „Ja, ist es nicht wirklich magnifique?“ fragten die beiden ehrlichen Ratgeber. „Geruhen Eure Majestät zu sehen: welch ein Muster! welche Farben!“ und dabei zeigten sie auf die leeren Webstühle, denn sie glaubten, dass andere das Zeug wohl sehen könnten.

Was ist das!“ dachte der Kaiser, „ich sehe ja gar nichts! Das ist ja entsetzlich! Bin ich etwa dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das schrecklichste, was mir zustossen könnte!“ „O ja, recht hübsch!“ sagte der Kaiser. „Es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen konnte. Das ganze Gefolge, das er bei sich hatte, schaute sich die Augen aus, bekam aber nicht mehr heraus, als alle die anderen, aber sie sagten ebenso wie der Kaiser: „O, es ist sehr hübsch!“ Und sie rieten ihm, dieses prächtige neue Zeug zum erstenmal bei der großen Prozession in Gebrauch zu nehmen, die bevorstand.

Magnifique! Wundervoll! Ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und alle zusammen waren vollkommen derselben Meinung. Der Kaiser verlieh jedem der beiden Betrüger ein Ritterkreuz, im Knopfloche zu tragen, und den Titel „Hofweber“. Die ganze Nacht vor dem Vormittag, an dem die Prozession stattfinden sollte, sassen die Betrüger auf und hatten über sechzehn Lichter angezündet. Die Leute konnten sehen, dass sie es eilig hatten, um des Kaisers neue Kleider fertig zu bekommen. Sie taten, als ob sie das Zeug vom Webstuhl nähmen, schnitten mit großen Scheren in die Luft, nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „So, nun sind die Kleider fertig!

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Kavalieren kam selbst heran, und die beiden Betrüger hoben den Arm in die Höhe, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, das sind die Beinkleider! Hier ist der Rock! und das ist der Mantel!“ und so weiter fort. „Es ist so leicht wie Spinnweb! Man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper. Aber das ist eben der Vorzug!“ „Ja!“ sagten alle Kavaliere, aber sehen konnten sie nichts, denn es war nichts da. Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger spiegelten vor, ihm jedes Stück von den neu genähten anzuziehen, und sie fassten ihn um den Leib, als ob sie etwas festbänden, das war die Schleppe, und der Kaiser drehte und wendete sich vor dem Spiegel. „O, wie gut sie kleiden, und wie prächtig sie sitzen!“ sagten alle. „Was für ein Muster! Welche Farben! Das ist eine kostbare Tracht!“ „Draussen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über Eurer Majestät in der Prozession getragen werden soll!“ sagte der Oberzeremonienmeister.

Ja, ich bin ja fertig!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ und dann wendete er sich noch einmal vor dem Spiegel, denn es sollte so aussehen, als ob er seinen Staat recht betrachtete. Die Kammerherren, die die Schleppe tragen sollten, suchten mit den Händen auf dem Fußboden umher, gerade, als ob sie die Schleppe aufnähmen. Sie wagten nicht, sich anmerken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten. Und so ging der Kaiser in der Prozession unter dem herrlichen Thronhimmel, und alle Menschen auf den Strassen und in den Fenstern sagten: „Gott, des Kaisers neue Kleider sind ja beispiellos schön! Welch eine herrliche Schleppe an dem Kleid! Und wie wohlgeraten alles sitzt! “ Niemand wollte sich merken lassen, dass er nichts sähe, denn dann hätte er nicht für sein Amt getaugt, oder wäre sehr dumm gewesen. Noch nie hatte ein neues Kleid des Kaisers solches Glück gemacht, wie dieses.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte ein kleines Kind. „Herr Gott, hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater, und der eine flüsterte es dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte. „Er hat gar nichts an! ein kleines Kind sagte, er hat überhaupt gar nichts an!“ „Er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das kränkte den Kaiser, denn ihm schien es, als ob sie recht haben könnten. Aber er dachte bei sich: „Die Prozession muss ich schon noch aushalten.“ Und so trug er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

(Von Hans Christian Andersen † 4. August 1875)


«Des Kaisers neue Kleider» zeigt auf, warum Gruppen oft Fehlentscheidungen treffen, inwiefern sich Individuen beeinflussen lassen und warum Menschen bei schlimmen Ereignissen oft danebenstehen, ohne zu handeln.

Passive Zuschauer

Je mehr Menschen anwesend sind, desto weniger wird geholfen und eingegriffen. Dies besagt der Zuschauereffekt – in der Psychologie vor allem unter dem Namen «Bystander-Effekt» oder «Genovese-Syndrom» bekannt. Letzterer geht auf die Amerikanerin Catherine Genovese zurück, die in den 1960er-Jahren in New York City vergewaltigt und ermordet wurde. Obwohl es dutzende Augenzeugen gab, griff niemand ein, und es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis die Polizei verständigt wurde.

Erklärt wird das Phänomen durch folgende zusammenwirkenden Mechanismen:

– Bewertungserwartung. Menschen haben natürlicherweise Angst vor einer negativen Bewertung durch Aussenstehende. Sie sind unsicher, wie sie sich in einer Notsituation verhalten sollen. Zudem haben sie Angst, dabei zu scheitern und vor den anderen Personen als unfähig dazustehen.
– Pluralistische Ignoranz. Aus dem Nichteingreifen der anderen Personen schliessen wir darauf, dass die Situation eigentlich harmlos ist.
– Verantwortungsdiffusion. Durch die Anwesenheit vieler Personen verteilt sich die Verantwortung auf alle Personen und niemand möchte sie alleine übernehmen.

Der Zuschauereffekt ist auch im Märchen erkennbar. Keiner der Anwesenden sieht die vermeintlichen Kleider und trotzdem spricht dies niemand offen an.

Beeinflussbare Individuen

In der Psychologie bezeichnet sozialer Einfluss die Veränderung von Meinungen, Einstellungen und Urteilen einer Person durch die Konfrontation mit den Ansichten anderer.

Die Forscher Bibb Latané und Sharon Wolf zeigten Bedingungen auf, unter denen der soziale Einfluss besonders stark ist. Je mehr Personen eine andere Meinung vertreten, desto stärker lässt sich der einzelne Mensch beeinflussen. Je höher der Status der anderen Personen (zum Beispiel, weil sie Experten auf ihrem Gebiet sind), desto stärker beeinflusst dies die Meinung des Einzelnen.

Im Märchen üben die Betrüger einen starken Einfluss aus, da sie sich als Meister ihres Fachs ausgeben. Durch die erfolgreiche Beeinflussung des Kaisers und seiner Minister kann sich der soziale Einfluss weiter fortsetzen. Der Kaiser und die Minister haben aufgrund ihres Status ebenfalls einen hohen sozialen Einfluss auf andere Personen. Dadurch, dass nun auch sie die Kleider loben, beeinflussen sie wiederum ihr gesamtes Gefolge. Indem das Gefolge in die Lobeshymnen einstimmt, wächst die Gruppe der einflussnehmenden Personen. Dies erklärt, warum auch bei der Prozession niemand wiederspricht.

Die Dummheit der Masse

In Gruppen kommt es überraschend oft zu suboptimalen Entscheidungen oder zu Fehlentscheidungen. Bei Aktenanalysen war dem Psychologen Irving Janis aufgefallen, dass einige amerikanische Krisen (z.B. Pearl Harbor oder die Krise in der kubanischen Schweinebucht) – zumindest teilweise – auf eindeutige Fehlentscheidungen der Beratergruppen zurückzuführen waren. Janis erklärte diese Fehlentscheidungen mit dem Phänomen des Gruppendenkens. Janis zufolge ist die Gefahr des Gruppendenkens immer dann gegeben, wenn der Entscheidungsprozess einer Gruppe so sehr durch das Streben nach einer Einigung geleitet ist, dass dies die Wahrnehmung der Realität beeinträchtigen kann. Diese Gefahr steigt durch verschiedene Bedingungen: Sie ist zum Beispiel höher, wenn eine Gruppe einen starken Zusammenhalt hat, von alternativen Informationsquellen abgeschottet ist, möglichst schnell eine Lösung finden muss oder der Gruppenführer eine bestimmte Entscheidung bevorzugt.

Im Märchen zeigen sich Elemente des Gruppendenkens unter anderem darin, dass der Kaiser als Gruppenführer von der Idee der Kleider von Anfang an begeistert ist. Ausserdem handelt es sich bei ihm und seinem Gefolge um eine Gruppe mit starkem Zusammenhalt. Daneben liegen der Gruppe keine alternativen Informationsquellen vor. Das Kind, das zum Schluss auf die nicht vorhandenen Kleider und damit auf den Irrsinn des Konzepts aufmerksam macht, kann als eine Art «Anwalt des Teufels» verstanden werden. Es ist nicht so sehr an die Gruppe angepasst und traut sich daher, seine abweichende Meinung auszusprechen.

Und die Moral …

Auch heutzutage werden immer wieder von Betrügern falsche Versprechungen gemacht. Die Wahrheit kommt meist zunächst nicht ans Licht, da Personen unter sozialem Einfluss stehen oder dem Zuschauereffekt verfallen. Um die Wahrheit zu erkennen, bedarf es auch heute noch mutiger und unangepasster Personen wie dem Kind im Märchen. Daneben sollten auch wir uns immer wieder die Frage stellen, welchen Illusionen wir unterliegen.

Zu guter Letzt fordert uns das Märchen dazu auf, nicht blind der Masse zu folgen, sondern für unsere Überzeugungen und Meinungen einzustehen und nicht dem Zuschauereffekt zum Opfer zu fallen. Stattdessen sollten wir eingreifen und handeln, wenn wir die Notwendigkeit erkennen – wie das Kind im Märchen. Wir sollten lieber einmal zu oft einschreiten als einmal zu wenig, denn nur durch das Zeigen von Zivilcourage können wir das Leben und die Menschenwürde von betroffenen Personen schützen.

(Von Christian Feuerbacher – Psychologie der Märchen)


ISBN 978-3-662-53668-1


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, COVID-19, Gesetz, MANIFEST, Natur, Politik, Staat, Verantwortlichkeit