Widerstandsrecht Schweiz

W. meint die Ermächtigung oder Verpflichtung, einer Obrigkeit, die elementare Rechte verletzt, unter Berufung auf höhere – göttl. oder naturrechtl. – Rechtsnormen auch mit Gewalt zu widerstehen (Naturrecht). Der Rechtsstaat kann das W. als Ultima Ratio zulassen, um eine Verfassungsordnung, die systematisch pervertiert wurde, wiederherzustellen, nicht aber wegen einzelner (Grund-)Rechtsverletzungen. Vom W. zu unterscheiden ist ziviler Ungehorsam, der gewaltlos bestimmte polit. Ziele verfolgt. Das W. wurde, oft verbunden mit dem Tyrannenmord, seit der Antike moralphilosophisch erörtert und oft anhand hist. Beispiele gebilligt. Auch das MA kannte neben der grundsätzl. Gehorsamspflicht (Römer 13) das W. gegen willkürl. Herrscher.

In der Eidgenossenschaft wurde der Kampf gegen rechtmässige Herrschaftsträger, insbesondere 1386 gegen Hzg. Leopold III., nachträglich dadurch legitimiert, dass die Habsburger ihre vertragl. Schutzpflichten vernachlässigt und die gefreiten Eidgenossen die Reichsordnung gegen die tyrann. “Vögte” verteidigt hätten (Befreiungstradition). Die Schlachtensiege des 14. und 15. Jh. wurden als Gottesurteil dem Vorwurf entgegengestellt, dass Bauern durch Siege über Adlige die Ständeordnung umstürzten. Die Klage über wütende Tyrannen rechtfertigte regelmässig die Gewaltanwendung gegen Höhergestellte inner- und ausserhalb der Kantone (Peter von Hagenbach 1474, Hans Ledergerw 1621, Sebastian Peregrin Zwyer von Evibach 1653). Im Humanismus wurde die Brücke von Wilhelm Tell zu Brutus dem Älteren geschlagen (Urner Tellenspiel, Glarean, Jakob Ruf).

Neue Dimensionen erreichte die Debatte über das W. durch die Reformatoren. Die grundsätzl. Gehorsamspflicht wurde bewahrt und gegenüber den Täufern auch durchgesetzt. Angesichts der Repressionen wurde aber erörtert, wann und wie Gott mehr zu gehorchen sei als den (altgläubigen) Menschen (Apostelgeschichte 5,29). Legitim erschien generell passiver Widerstand, also Gehorsamsverweigerung; Zurückhaltung bestand bei aktiver Gewaltanwendung. Für Huldrych Zwingli handelten Bürger als Werkzeuge Gottes, nicht als Wahrer ihrer eigenen Rechte, wenn sie – selbst mit Waffengewalt – gegen Tyrannen die freie Predigt verteidigten. Bei Zwingli ist das W. deutlich stärker ausgeprägt als bei Martin Luther oder in den Debatten, die Heinrich Bullinger mit John Knox, François Hotman und Theodor Beza führte. Johannes Calvin entwickelte in der franz. Bürgerkriegssituation ab 1559 unsystemat. Ansätze (Ephoren) eines W.s, indem er den Generalständen tendenziell gewaltfreien Widerstand gegen glaubensfeindl. Edikte zugestand. 1574 dehnte Beza das W. nach der Bartholomäusnacht auf die magistrats inférieurs aus (Beamte, Hochadel, Städte), die legitime Herrschaft ausübten und das Volk repräsentierten. Auf Anregung Josias Simlers integrierte Beza den Widerstand der Eidgenossen gegen die habsburg. Tyrannis in seine Argumentation.

In den wiederholten Bauernaufstände reklamierten die Bauern ihr W. zur Verteidigung der alten, gottgewollten, aber durch die Obrigkeit verletzten Rechte. Bis auf den Bauernkrieg von 1525 waren explizite bibl. oder theol. Legitimationen selten, auf chiliast. Ideen wurde dagegen durchaus Bezug genommen (Weissagung des Bruder Klaus, nach 1653). Die Aufständischen im Bauernkrieg von 1653 stellten sich mit ihrem Untertanenbund in die Tradition des ersten Bundes der Eidgenossen, der ebenso zum Kampf für die Gerechtigkeit geschlossen worden sei. Die Luzerner Bauern verglichen – wie auch 1712 wieder – die Stadt mit “der Vögten Tyranney”. Drei “Tellen” (Drei Tellen) begingen ein Attentat auf den Luzerner Schultheissen und griffen dabei auf Tells Vorbild und Gott zurück, der die falsch handelnde Obrigkeit strafe. 1712 und v.a. in der Helvetik beriefen sich Aufständische auf die Wahrung des richtigen Glaubens gegen die kompromissbereite oder aufklärer. Obrigkeit. Sie verteidigten altes Recht und alte Freiheiten, v.a. die Gemeindeautonomie, gegen absolutist. Tendenzen (vor 1798) und gegen den helvet. Einheitsstaat und scheuten dabei auch vor dem konterrevolutionären Bürgerkrieg (Stecklikrieg von 1802) nicht zurück.

Das naturrechtlich begründete W. legitimierte in polit. Konflikten wie den Unruhen in Zürich 1713 die zünft. Opposition, sofern ein pflichtvergessener Herrscher die Fundamentalgesetze verletzte und den Herrschaftsvertrag auflöste. Vor dem Hintergrund der Genfer Revolutionen entwickelte Jean-Jacques Rousseau das Recht des souveränen Volks auf Revolution, um der volonté générale eine angemessene Verfassung zu geben. Darauf beriefen sich fortan die Radikalen beim Umsturz von Verfassungen des Ancien Régime, so bereits 1798 in der Waadt gegen Bern, bei den Freischarenzügen und in Genf 1846. Konkret rezipiert wurde das W. gemäss franz. Revolutionsverfassung von 1793 in der Regeneration: Ludwig Snell sah in seinem Verfassungsentwurf von 1831 ein W. der bewaffneten Bürger (Milizsystem) vor. Im Züriputsch 1839 begründeten die Konservativen den Widerstand ebenfalls mit dem Volkswillen sowie der Verteidigung der göttl. Ordnung und des Christentums. Der kath.-konservative Sonderbund und der Widerstand gegen dessen Auflösung 1845-47 wurden als Verteidigungsaktion souveräner Staaten legitimiert.

Der liberale Bundesstaat garantierte Grundrechte und Prozeduren als Surrogate des W.s. Dennoch vertrat alt Bundesrat Jakob Dubs 1877 das “natürl. Recht der Selbsthülfe” bis zur Revolution bei staatl. Vergehen gegen die Menschenrechte. Die radikalen Berner Kantonsverfassungen von 1846 und 1893 erlaubten als einzige den Widerstand, nämlich gegen das rechtswidrige Eindringen von Beamten in Privatwohnungen (Art. 75 bzw. 76; in der Kantonsverfassung von 1995 aufgehoben). Der Offiziersbund von 1940 war bereit, die legitime Landesregierung zu stürzen, falls diese keinen Widerstand gegen das nationalsozialist. Deutschland leisten sollte. Der Fahneneid wurde dahingehend interpretiert, dass er auf das Vaterland und nicht auf die polit. oder militär. Führung erfolgt sei. In der Nachkriegszeit wurde das W. im Namen des jurass. Volks gegen die Berner Verfassung und Behörden benutzt, von den Béliers z.T. auch für Gewaltanwendung. Kein W. als Rekurs auf eine höhere Rechtsordnung beanspruchten trotz Systemkritik jüngere Protestbewegungen (Jugendunruhen, Kaiseraugst, Globalisierungsgegner).

Literatur
– W. Schulze, «Zwingli, luth. Widerstandsdenken, monarchomach. Widerstand», in Zwingli und Europa, hg. von P. Blickle et al., 1985, 199-216
– A. Kley, «Rechtsstaat und Widerstand», in Hb. des schweiz. Verfassungsrechts, 2001, 285-298
– M. Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, 2001
– M. Polli-Schönborn, «Frühneuzeitl. Widerstandstradition auf der Luzerner Landschaft», in JHGL 20, 2002, 3-15
– G.P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgesch., 2006

Autorin/Autor: Thomas Maissen


Historisches Lexikon der Schweiz


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Wikipedia

Der Rechtsanwalt Mohandas Karamchand Gandhi (hier 1906) kämpfte mit friedlichen Mitteln für die Rechte der indischen Minderheit im britischen Südafrika und führte später Indien in die Unabhängigkeit vom Britischen Königreich.

Als Widerstand wird die Verweigerung des Gehorsams oder das aktive oppositionelle Handeln gegenüber der Obrigkeit oder der Regierung bezeichnet.

Dabei ist es zunächst von nachgeordneter Bedeutung, ob die Machthaber, gegen die Widerstand geleistet wird, die Herrschaft legal, legitim oder aber illegal ausüben. Bewertungen wie „gerechtfertigter Widerstand“, Ziele und Mittel des Widerstands, moralische und rechtliche Belange setzen einen Betrachter-Standpunkt voraus: es kommt darauf an, von wem, an welchem Ort und zu welcher Zeit die Bewertung vorgenommen wird. Der Widerständige wird den Widerstand immer anders bewerten als der, gegen den sich der Widerstand richtet. Letzterer aber ist in der Regel die „Obrigkeit“, die gleichzeitig die Definitionsmacht über Recht und Gesetz innehat. Widerstand befindet sich entsprechend außerhalb der gesetzten Ordnung.

Hintergrund und Abgrenzung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Widerstand als Form der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung ist in der politischen Kultur Europas schon seit der Antike verankert. In fast allen Gesellschaftsformen bestand oder besteht ein Konsens, dass Widerstand in bestimmten Fällen notwendig und legitim sein kann. In konkreten Fällen gehen die Meinungen darüber zuweilen auseinander.

Widerstand ist von der Revolution abzugrenzen, weil er nicht grundsätzlich auf die Neuformierung der gesellschaftlichen Ordnung abzielt. So kann unter Umständen die Wiederherstellung eines alten Rechts oder einer aufgehobenen Rechtsordnung das zentrale Anliegen sein. Dennoch kann eine als Widerstand begonnene Bewegung in einer Revolution münden.

Ziele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von der Zielsetzung her unterscheidet man:

  1. den Widerstand, der gegen das als ungerecht empfundene politische Handeln einer legalen, legitimen oder anerkannten Obrigkeit gerichtet ist und auf die Wiederherstellung des Status quo ante (lat.: der vorherige Zustand), d. h. des Rechts, zielt,
  2. den Widerstand, der sich gegen die Form der Herrschaft richtet und auf die Beseitigung bzw. Absetzung[1] einer Person (siehe auch Amtsenthebung), einer Obrigkeit, einer Regierung oder eines illegalen Regimes gerichtet ist.

Formen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die anonyme Aktivistengruppe Anonymous begründete eine neue Form des politischen Widerstands, die erst durch das Internet möglich wurde.

Die Formen des Widerstands sind unterschiedlich und hängen in hohem Maße von den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Regeln ab. So wird zum Beispiel unterschieden zwischen passivem und aktivem Widerstand, wobei Ersterer den gewaltlosen Widerstand, Zweiterer den militanten, gewaltsamen Widerstand meint.

Formen des Widerstands sind beispielsweise die innere Emigration, ziviler Ungehorsam, gewaltloser Widerstand, Spaßguerilla, direkte Aktion und gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit oder der Staatsmacht. Der Fall des gewaltsamen Widerstands stellt für die Ausübenden zumeist ein ethisches Dilemma dar. Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen beschreibt dieses Dilemma mit dem Satz: „Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.“ Eine extreme Form des gewaltsamen Widerstandes stellt der Terrorismus dar.

Widerstand kann sowohl individuell, kollektiv oder hierarchisch organisiert sein. Die Organisation des Widerstands in und durch Gruppen wird als Widerstandsbewegung bezeichnet.

Widerstand in rechtlicher, alltäglicher und soziologischer Betrachtung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Widerstandsrecht im Grundgesetz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes verbürgt jedem Deutschen das Recht, gegen jedermann Widerstand zu leisten, der es unternimmt, die im Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung außer Kraft zu setzen.

Widerstand als Alltagsbegriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Weiter Begriff: Widerstand ist der Angriff auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse, er richtet sich also vor allem gegen den Staat, gegen Regierungen, gegen jede Form von Autorität. In dieser Definition ist jegliche Form des Nicht-Handelns gegen Staat und Autorität, von Steuerhinterziehung bis Terrorismus, enthalten.
  2. Allgemeiner Begriff: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Diese Bertolt Brecht zugeschriebene Parole wurde Anfang der 1970er Jahre in der Anti-AKW-Bewegung gegen das geplante Kernkraftwerk Wyhl populär. Der Satz wurde aufgrund seiner allgemeinen Bedeutung von den verschiedensten sozialen Bewegungen, aber auch von der NPD, der Werbebranche oder dem Bund der Steuerzahler angewendet.
  3. Individueller Begriff: Widerstand ist das Aufbegehren der Un-Mächtigen gegen die Mächtigen, mit einer Utopie für eine gerechte Gesellschaft, an der sich auch die eigenen Handlungen messen lassen müssen. In dieser Definition stehen die individuellen Utopien von gerechter Gesellschaft und die Moral eines Jeden einer allgemeinen Fassung des Begriffs entgegen.

Widerstand im Völkerrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Völkerrecht gelten Kriterien wie ein fortwährender bewaffneter Kampf, Widerstand von Staaten oder zwischenstaatlichen Organisationen (z. B. der Vereinten Nationen) gegen eine Annexion und vor allem der fortlaufende Wille der Bevölkerung des gefährdeten Staates als maßgeblich für deren Nichtigkeit. Da Österreich nach diesen Maßstäben nach dem „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 keinen Widerstand leistete, nehmen deutsche Staatsrechtler an, dass seine Staatlichkeit zu dieser Zeit „erloschen“ war. Gleiches gilt für Abessinien nach seiner Niederlage im Krieg gegen Italien 1935/36 und die baltischen Staaten 1940 nach ihrer Besetzung durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.[2]

Im Unterschied dazu wurde etwa im besetzten Polen effektiv Widerstand geleistet und polnische Verbände beteiligten sich an Kampfhandlungen gegen deutsche Soldaten, weshalb die Staatengemeinschaft von einer Fortexistenz des polnischen Staates 1939–1945 ausgeht und selbiger nicht als ausgelöscht gilt.[3]

Widerstand als kulturtheoretischer Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Paul Willis, englischer Soziologe und Vertreter der Kulturtheorie bezeichnet Widerstand als Unzufriedenheit gegen die alltäglichen und die herrschenden Verhältnisse. Er stellt dies am Beispiel männlicher Jugendlicher aus der Arbeiterklasse dar: Die Jugendlichen lehnen sich gegen die als ungerecht empfundenen Lebensumstände auf. Die Schule ist dabei die Institution, die in der angeblich klassenlosen Gesellschaft suggeriert, die Arbeiterkinder können die Arbeiterklasse verlassen, wenn sie sich bemühen. Doch diese lehnen Schule ab, lehnen sich gegen die herrschenden Bedingungen und die vorherrschenden Ideologien auf. Ihr kultureller Rahmen leugnet, dass Bildung für Arbeiter eine Perspektive bringt, und ihre Situation bestätigt dies, sie ist erfahrene Chancenlosigkeit. Die Jugendlichen greifen dabei das System nicht als solches an, sie fordern nicht ihre Chancengleichheit, kämpfen nicht für die Durchsetzung ihrer langfristigen Interessen. Stattdessen entwickeln sie Gegenstrategien, um ihre Situation zu bejahen, zum Beispiel indem sie ihre Männlichkeit durch Sexismus und Rassismus aufwerten und sich dem Bildungssystem verweigern. So richten sie sich mit ihren ursprünglich widerständigen Strategien in dem herrschenden System ein. Ihr Widerstand wird zur eigenen Beschränkung – sie lernen nichts und ändern ihre Situation nicht.[4]

Widerstand im philosophischen Diskurs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Michel Foucault: Widerstand als Gegenpol zur Macht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Michel Foucault erklärt Widerstand als Gegenpol zur Macht. Machtverhältnisse können nur durch eine Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, diese sind im Machtnetz präsent sowohl als Gegner wie auch als Stützpunkte, als Einfallstore oder Zielscheiben.

„Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt der Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können. […] Und wie der Staat auf der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen.“[5]

Antonio Gramsci: Widerstand als revolutionäre Utopie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Antonio Gramsci bezeichnet Widerstand als revolutionäre Utopie, die dadurch wächst, dass sie durch die Subjekte in die Köpfe der Menschen und in die Gesellschaft getragen wird: als Kampf um Hegemonie in der Zivilgesellschaft, als Verknüpfungszentren im Ensemble ihrer Verhältnisse. Grundlage dabei ist Gramscis Theorie vom bewusst handelnden Menschen, die er aus Karl MarxThesen über Feuerbach entwickelt hat. Aus der Wechselbeziehung zwischen menschlichem Bewusstsein und gesellschaftlicher Praxis geht das Individuum eine Teilhabe an Organismen ein, derer er sich tätig bewusst ist. „Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, verändert, wobei unter Umwelt das Ensemble der Verhältnisse zu verstehen ist, die jeder einzelne eingeht.“

Die Individuen erlangen ihre Identität durch ihr Handeln, indem sie sich in, aber auch mit ihren Verhältnissen bewegen, die Widersprüche darin aufnehmen und sich dazu verorten. Die kapitalistische Gesellschaft ist von Hegemonie durchdrungen, wodurch es einer Klasse gelingt, die Einzelnen in Abhängigkeitsverhältnissen zu verorten. Dies geschieht in erster Linie nicht über Zwang, sondern über eine Art gesellschaftliche Autorität, die die Individuen in zentrale Strukturen und Institutionen bindet und sie somit in Zustimmung zur herrschenden Ordnung verhält. Der Raum dieser Zustimmung ist die vermeintlich außer-herrschaftliche Sphäre, deren Hauptfunktion es ist, den Konsens der Unterdrückten mit den Werten der herrschenden Klasse zu gewährleisten. Dies ist die Zivilgesellschaft, die einerseits das Gleichgewicht der Hegemonie erhalten muss, in einer stetigen Reproduktion der Zustimmung, und zudem zum Ort des Kampfes um Befreiung wird.

Der Widerstand, der der Kampf um Hegemonie ist, braucht „die Herzen und die Köpfe“ der Individuen: Die Subjekte sind der Ausgang der Veränderung, auf der Grundlage des bewusst handelnden Menschen. Aber ebendies heißt auch, dass die Individuen auf die Kollektivität angewiesen sind, um in den Prozessen ihrer Handlungen Widersprüche aufzudecken und Kritikfähigkeit zu entwickeln, in dem Sinne, dass sie die Verknüpfungszentren im Ensemble ihrer Verhältnisse sind.[6]

Pierre Bourdieu: Widerstand als kollektiver Prozess[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Pierre Bourdieu hat Widerstand recht praktisch definiert: Widerstand entsteht dann, wenn die Konkurrenzkämpfe überwunden werden zugunsten von Kämpfen, die die herrschende Ordnung in Frage stellen: durch reale, effektiv mobilisierte Kräfte, praktische Klassen, die kollektiv und öffentlich im sozialen Feld zu agieren beginnen.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Komplexität des Problems gesellschaftlicher und politischer Widerstand und seine enorme Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Rechtsordnung bringen es mit sich, dass zu diesem Thema eine große Zahl Bücher erschienen ist. Das spiegelt die für einen Enzyklopädieartikel sehr ausgedehnte Bibliographie wider.

  • de Benedictis, Angela (Hrsg.): Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jahrhundert), auch unter dem ital. Titel: Sapere, coscienza e scienza nel diritto di resistenza (XVI–XVIII sec.) (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 165). Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03280-2.
  • Cardauns, Ludwig: Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmäßige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrhunderts (Vorwort von Arthur Kaufmann). Darmstadt 1973 (Erstveröffentlichung Bonn 1903).
  • Eberhard, Winfried: Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen. München 1985 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 54).
  • Friedeburg, Robert von (Hrsg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Berlin 2001 (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 26), ISBN 3-428-10629-6.
  • Kaufmann, Arthur: Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit. Vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg 1991.
  • Quilisch, Tobias: Das Widerstandsrecht und die Idee des religiösen Bundes bei Thomas Müntzer. Gleichzeitig ein Beitrag zur Politischen Theologie. Berlin 1999 (= Beiträge zur politischen Wissenschaft, 113), ISBN 3-428-09717-3.
  • Quin, Eckehard: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600. Berlin 1999 (= Beiträge zur politischen Wissenschaft, 109), ISBN 3-428-09413-1.
  • Scheible, Heinz (Hrsg.): Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546. Gütersloh 1969 (= Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 10).
  • Suter, Andreas: Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 161–194.
  • Wolgast, Eike: Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1980 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. 1980/9).
  • Kurt Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Breslau 1916 (= Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, 126).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Viktor Cathrein: Moralphilosophie. Eine wissenschaftliche Darlegung der sittlichen, einschließlich der rechtlichen Ordnung. 2 Bände, 5., neu durchgearbeitete Auflage. Herder, Freiburg im Breisgau 1911, Band 2, S. 693–699 (Absetzung und Notwehr).
  2. Georg Dahm, Jost Delbrück, Rüdiger Wolfrum: Völkerrecht, Bd. I/1: Die Grundlagen. Die Völkerrechtssubjekte, 2. Auflage, de Gruyter, Berlin 1989, S. 143 f. (abgerufen über De Gruyter Online).
  3. Oliver Dörr, Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession, Duncker & Humblot, Berlin 1995, S. 345.
  4. Paul Willis: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule, Frankfurt am Main 1982.
  5. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 117.
  6. Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Gefängnishefte 10 u. 11, Hamburg 1995.


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, Gesetz, Widerstand