Der Rosenkrieg vor dem Richter

KANTON THURGAU. Auch Arme haben ein Recht auf Gerechtigkeit: Deshalb kommt die unentgeltliche Rechtspflege bei Zivilsachen für Gerichtskosten und Anwalt auf,wenn die Menschen am Existenzminimum leben. Die Aufwendungen haben sich in den vergangenen zwölf Jahren aber rund verdoppelt.

Die Gerechtigkeit soll nicht am Geldbeutel scheitern. Deshalb hilft der Staat Menschen, die am Existenzminimum leben, zu ihrem Recht. Angeklagten in einemStrafprozess steht ein amtlicher Verteidiger zu. Im Zivilrecht werden die Kosten für das Gerichtsverfahren und den Anwalt von der unentgeltlichen Rechtspflege abgegolten. Das gilt etwa für strittige Fälle von Unterhaltszahlungen nach der Scheidung oder wenn sich die Eltern beim Sorge- und Besuchsrecht für die Kinder nicht einig sind.

Mittelschicht ist im Nachteil

Doch die Kosten für die unentgeltliche Rechtspflege haben sich in den vergangenen zwölf Jahren im Thurgau fast verdoppelt: Von 631 000 Franken im 2003 auf 1,2 Millionen Franken im 2014. Wird länger und verbissener gestritten, wenn man es nicht selber bezahlen muss?

Susanne Pfeiffer-Munz, die Gerichtsschreiberin des Bezirksgerichts Kreuzlingen, sieht das nicht so. «Der Kampf um die Kinder wird nicht länger, nur weil der Staat die Kosten übernimmt.» Falls überhaupt, dann sei es nur eine Minderheit, welche die unentgeltliche Rechtspflege über die Massen strapaziere.

Eine «Gerechtigkeitslücke»sieht Susanne Pfeiffer-Munz aber schon. Denn ab einem bestimmten Einkommen werden die Parteien in vollem Umfang zur Kasse gebeten. «Gegenüber Leuten mit mittlerem Einkommen ist die unentgeltliche Rechtspflege unfair», sagt Susanne Pfeiffer-Munz. «Ein abgestuftes System wäre vielleicht gerechter.»

Vaterschaftsklage nach Afrika

«Der Mittelstand ist benachteiligt», sagt auch Pascal Schmid, der Gerichtspräsident von Weinfelden. Die unentgeltliche Rechtspflege stellt er zwar keineswegs in Frage. «Sie ist ein wichtiges rechtsstaatliches Gut.» Schmid ist jedoch überzeugt: Es würden weniger Prozesse angestrengt, deren Erfolgsaussichten gering sind, wenn die Parteien die Kosten selber berappen müssten. Im Gerichts-Alltag zeige sich: «Es gibt einen kleinen Personenkreis, der die unentgeltlicheRechtspflege missbraucht.» Dies sei besonders im familienrechtlichen Bereich zu beobachten.

Es komme immer mal wieder vor, dass etwa Scheidungsverfahren durch stets neue Abänderungsklagen und Rechtsmittel in die Länge gezogen würden. «So etwas kostet schnell einmal fünfstellige Frankenbeträge», rechnet Schmid vor. Kosten, die dem Steuerzahler aufgebürdet werden. Manchmal müsse sich das Bezirksgericht mit Vaterschaftsklagen befassen, bei denen der mutmassliche Kindsvater in Nigeria, Tunesien oder Libyen lebt. «So etwas ist sehr aufwendig und meist wenig aussichtsreich.» Schmid schlägt vor, dass bei der unentgeltlichen Rechtspflege ein Selbstbehalt von zehn Prozent der Kosten übernommen werden müsse. Ähnlich wie bei der Krankenkasse. «Das würde in einigen Fällen sicher die Bereitschaft erhöhen, sich aussergerichtlich oder zumindest während des Verfahrens zu einigen.»

Eher strenge Praxis

Dass familienrechtliche Prozesse zugenommen haben, stellt Alex Frei fest, der Gerichtspräsident von Münchwilen. Heute werde schneller ein Anwalt eingeschaltet als früher. Von einem Selbstbehalt hält Alex Frei aber nichts. «Wer schon am Existenzminimum lebt, dem kann man auch keinen Selbstbehalt auferlegen.» Ausserdem sei die Bewilligungs-Praxis im Thurgau eher streng.

Das sieht auch Thomas Soliva so, der Sprecher des Thurgauer Obergerichts. Er sagt, der Thurgau gehöre bei der Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege«eher zu den strengen Kantonen».Soliva hält einen Sockelbetrag für schwierig. Sei er zu niedrig, halte er die Leute nicht vom Prozess ab. Sei er zu hoch, könnten Bedürftige in eine Notlage geraten.

Die Gerichts- und Anwaltskosten müssen dem Staat zurückerstattet werden, sobald es die finanzielle Situation erlaubt. Bereits der Hinweis darauf wirke, diese Erfahrung macht der Arboner Gerichtspräsident Ralph Zanoni. «Dann überlegen sich manche schon, ob sie wirklich vor Gericht gehen oder ob sie einen Anwalt beiziehen wollen.» Insgesamt habe Arbon aber sehr wenig strittige Scheidungs- oder Sorgerechts-Prozesse.

«Wir nehmen uns viel Zeit, um vor der Gerichtsverhandlung eine Lösung zu finden», sagt Zanoni. Es gebe aber einzelne Fälle, die grossen Aufwand verursachten. «Es sind meist sehr tragische Schicksale.»

(IDA SANDL)


Tagblatt.ch


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