Erpressung und Vertuschung: Bundesrat Alain Berset wurde mit offenbar verfänglichen Fotos und Mails um 100 000 Franken erpresst. Die Bundesanwaltschaft vernichtete alles belastende Material, weil sonst Berset sein Amt nicht mehr richtig ausüben könne.

Bundesrat Alain Berset

Bundesrat Alain Berset


In seinem Bundespräsidialjahr von 2018 liess sich Alain Berset (SP) weltweit ständig von einem Fotografen begleiten. Jetzt hatte er offenbar eine Fotografin zu viel. Die Bundesanwaltschaft bestätigte gegenüber der Weltwoche, «dass sie im Dezember 2019 eine Strafanzeige von Bundesrat Alain Berset wegen des Verdachts der Erpressung (Art. 156 StGB) erhalten hat». So lautet die offizielle Verlautbarung zu einem explosiven Fall, der die Amtsführung Bersets erheblich belastet hat und der erklären könnte, warum der Bundesrat die letzten Monate zunehmend als matt und passiv wahrgenommen wurde. Der sechsseitige Strafbefehl vom 14. September 2020 liegt der Weltwoche vor.

Der Tatbestand ist folgender: Am 21. November 2019 schickte Scarlett Gehri (Name geändert) in englischer Sprache ein E-Mail mit sieben angehängten Dokumenten an Bundesrat Alain Berset. Es handelte sich dabei um persönliche Korrespondenzen zwischen den beiden sowie um Fotos von Berset. Im Schreiben wurde der Magistrat zur Bezahlung einer «ausstehenden Schuld» von 100 000 Franken sowie zur Mitteilung eines Termins für die Geldübergabe aufgefordert. Zudem warnte Frau Gehri Berset, dass eine Vertrauensperson über dieses E-Mail informiert worden sei. Im Fall der Nichtbezahlung wurde Berset angedroht, dass sie in der Öffentlichkeit schwerste Vorwürfe aus dem persönlichen Bereich gegen ihn erheben werde.

Gleichzeitig eröffnete Scarlett Gehri je ein Konto bei zwei verschiedenen Banken, um die geforderten 100 000 Franken einzukassieren. Am 22. November 2019 bekräftigte sie, dass Dritte am Erwerb der Fotos und der gegenseitigen Korrespondenz interessiert seien. Berset werde aber prioritär berücksichtigt, sofern er die geforderten 100 000 Franken bezahle. In zwei weiteren Mails schrieb die Frau in den nächsten beiden Tagen, dass sie im Fall einer Strafanzeige die «Beweise offenlegen» beziehungsweise «alles auf den Tisch legen» werde. Gegenüber einer anderen Person bekräftigte sie die Drohung am 9. Dezember 2019 und stellte zusätzliche Vorwürfe in Aussicht. Zwischen dieser Drittperson und der Erpresserin wurde schliesslich für den 13. Dezember 2019 um 13.30 Uhr ein Termin in einem Lokal für die Geldübergabe vereinbart.

Verhaftung im Morgengrauen

Dazu kam es allerdings nicht. Bundesrat Alain Berset erstattete am 12. Dezember 2019 Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft gegen Scarlett Gehri. Diese wurde am folgenden Tag um 7.40 Uhr verhaftet. Somit konnte es nicht zum vereinbarten Treffen kommen. Auch war damit der objektive Tatbestand der Erpressung nicht mehr erfüllt. Hingegen war der subjektive Tatbestand der versuchten Erpressung gemäss Artikel 156 Ziffer 1 des Strafgesetzbuches gegeben. Noch am Vortag der Geldübergabe hatte die Erpresserin geschrieben, sie werde nicht zum Treffen erscheinen; auch distanzierte sie sich von ihrer Geldforderung, nahm gewisse Anschuldigungen «als unwahr» zurück und lieferte die Originale der zuvor vorlegelegten Text- und Bilddokumente aus. Dies war insofern für alle Beteiligten von Vorteil, als es sich strafmildernd auswirkte. Somit konnte der Erpressungsfall per Strafbefehl erledigt werden, was eine Gerichtsverhandlung und damit die Herstellung einer breiten Öffentlichkeit verhindert hat. Ob allenfalls hinter den Kulissen Geld floss, ist nicht bekannt.

Bei der Verhaftung von Scarlett Gehri stellte die Polizei nicht weniger als fünf Datenträger sicher, nämlich ein Apple-MacBook, ein Tablet sowie drei Smartphones. Ein Spezialdienst der Bundeskriminalpolizei löschte sämtliche Daten und setzte alle Geräte auf die Werkseinstellung zurück. Damit machte sie Tabula rasa mit allen Daten Gehris, so dass diese keine «neuerliche, ähnlich gelagerte Delikte» mehr begehen konnte. Man hatte dazu das Einverständnis der Frau eingeholt, wobei in der achtstündigen Polizeihaft mutmasslich Druck auf sie ausgeübt wurde. Eine so rigorose Massnahme kommt im digitalen Zeitalter der Löschung der Identität einer Person nahe. Danach erhielt Gehri alle Geräte sowie eine SIM-Karte zurück.

Während die Unterlagen der Kontoeröffnung durch Scarlett Gehri als Beweismittel bei den Akten belassen wurden, bemühte sich die Bundesanwaltschaft, sämtliches Material raschestmöglich zu vernichten. Eine forensische Untersuchung wurde schon gar nicht erwogen, weil die Echtheit offenbar nicht bezweifelt wurde und weil diese Beweismittel keinen Niederschlag in den Akten finden sollten. Wie bei Strafbefehlen üblich, spielte die Bundesanwaltschaft gleichzeitig Untersuchungs-, Anklage- und Gerichtsbehörde: Scarlett Gehri wurde am 14. September 2020 durch die Verfahrensleiterin, Simone Meyer-Burger, der versuchten Erpressung schuldig gesprochen und dazu verurteilt, die Verfahrenskosten von 2500 Franken zu tragen. Ihre wirtschaftliche Situation erlaubte es nicht, dass sie die Kosten für die amtliche Verteidigung durch den Berner Rechtsanwalt Andrea Janggen übernehmen konnte. Für diese 7615 Franken müssen vorderhand die Steuerzahler aufkommen. Die Beschuldigte erhielt eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 30 Franken aufgebrummt, wobei der Vollzug unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben wurde.

«Gewichtige Geheimhaltungsinteressen»

Sowohl Alain Berset wie Scarlett Gehri beantragten bei der Bundesanwaltschaft, dass der «hier zu beurteilende Sachverhalt nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll». Da interessierte Personen jedoch grundsätzlich in Strafbefehle Einsicht nehmen dürfen, konnte der Antrag der Weltwoche nicht abgewiesen werden. Der Strafbefehl liegt aber nur in anonymisierter und in manchen Teilen geschwärzter Form vor. Denn «bei beiden Beteiligten sind gewichtige Geheimhaltungsinteressen sowohl in persönlich-familiärer als auch in beruflicher Hinsicht ausgewiesen». Nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft könnte also Alain Berset seinen Beruf als Bundesrat nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausüben, sollte das belastende, mittlerweile gelöschte Material publik werden.

Es bestehe, schreibt die Bundesanwaltschaft, bei Bundesrat Berset im vorliegenden Strafverfahren «ein besonderes Bedürfnis auf Schutz der Persönlichkeit und Privatsphäre». In diesem Sinn sei der öffentlich aufzulegende Strafbefehl so zu anonymisieren, dass ein Rückschluss auf die Verfahrensbeteiligten nicht möglich sei. Gegenüber der Weltwoche betonte der Rechtsdienst der Bundesanwaltschaft

«Bitte beachten Sie, dass es Ihnen nicht gestattet ist, das angehängte Dokument zu publizieren oder Dritten zur Verfügung zu stellen.»

Das ist eine pikante Forderung, denn die Bundesanwaltschaft selber unterstreicht die politische Brisanz dieses Falls, den sie gleichzeitig unter dem Deckel halten möchte. Hat sich Bundesrat Berset erpressbar gemacht? Bei Bekanntwerden des Falls wäre laut Bundesanwaltschaft sein berufliches Interesse tangiert. Soll man darüber nicht berichten dürfen?

Bersets Prätorianergarde?

Natürlich haben auch Politiker und Regierungsmitglieder Anspruch auf den Schutz ihrer Privatsphäre. Gleichzeitig gilt für Bundesräte wie für andere Führungspersönlichkeiten die Regel, dass sie sich in jeder Sphäre ihres Lebens so verhalten sollten, dass ihre Autorität und Handlungsfähigkeit im Amt intakt bleiben. Was auch immer auf diesen Datenträgern zu sehen und zu lesen ist: Die Bundesanwaltschaft hat sie als so gravierend erachtet, dass sie sie umgehend löschen liess, weil sonst die «beruflichen Interessen» von Berset als Bundesrat beeinträchtigt würden.

Doch die Bundesanwaltschaft ist keine Prätorianergarde im Dienst eines Bundesrats. Kommt der Einsatz der obersten Strafverfolgungsbehörde zur Bereinigung einer magistralen Privatangelegenheit einem Missbrauch gleich? Machten sich hier Staatsorgane gar zu Komplizen einer Vertuschung?

Die Art und Weise, wie Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalpolizei Beweismittel beiseiteschafften, befremdet. Auf den verschiedenen Geräten der Verurteilten wurde sämtliches Material gelöscht, und zwar nicht nur die zur versuchten Erpressung eingesetzten Daten, sondern zwecks präventiver Verhinderung späterer Erpressungen gleich sämtliche Daten. Im Fall Berset/Gehri wurde so eine spätere Untersuchung, beispielsweise der vorgesetzten parlamentarischen Aufsicht, von vornherein verunmöglicht. Würden unsere Strafverfolgungsorgane die Interessen eines erpressten Normalbürgers ebenso effizient und rigoros verteidigen wie jene von Bundesrat Berset?

Auch ist es naheliegend, dass den SP-Politiker die politisch und privat äusserst unangenehme Geschichte vermutlich über Monate eingeschränkt und geschwächt hat, musste er doch jederzeit damit rechnen, dass die Affäre auffliegt. Kurz: Die Schweiz hatte während der grössten gesundheitlichen Herausforderung seit über hundert Jahren möglicherweise einen Gesundheitsminister, der nicht vollumfänglich handlungsfähig war.

Unmut in der Verwaltung

Es stellen sich aufgrund der Anonymisierungen etliche weitere Fragen: Handelt es sich bei der verurteilten Person um eine heutige oder ehemalige Mitarbeiterin des Innendepartements, also um eine Untergebene des Erpressten? Dann käme zur übrigen Problematik der Aspekt des Machtgefälles im Zusammenhang mit der heftig geführten #MeToo-Debatte hinzu. Weiter steht im Strafbefehl, die Beschuldigte habe selber zwar «gewichtige Teile ihrer zur Veröffentlichung angedrohten Behauptungen als unwahr zurückgenommen». Das heisst gleichzeitig, dass andere Beschuldigungen weiterhin im Raum stehen und künftiges Erpressungsmaterial liefern könnten – auch dürfte dieses trotz Löschung auf den Geräten beim Provider weiterhin verfügbar sein. Und warum war die Erpresserin der Meinung, es stünden ihr von Berset 100 000 Franken zu? Gingen dieser Forderung bestimmte Vereinbarungen oder Handlungen voraus? Auf Fragen der Weltwoche hat Bundesrat Berset bisher noch nicht geantwortet.

Bundesräte brauchen, damit sie ihr Amt wirksam ausüben können, zwei unerlässliche Führungseigenschaften: Kompetenz und Integrität. Wenn sich ein Bundesrat in seiner Privatsphäre so verhält, dass der Staatsapparat belastendes Material aus der Welt schaffen muss, weil sonst dieser Bundesrat sein Amt nicht mehr richtig ausüben kann, ist die Integrität mutmasslich beschädigt.

Der Unmut ist bereits beträchtlich. Den Fall nach aussen getragen haben Leute aus der Bundesverwaltung, die über das Vorgehen von Berset und der Bundesanwaltschaft erbost sind.

(Von Christoph Mörgeli)


Weltwoche.ch


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