Der Menschenrechtsgerichtshof befasst sich mit einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung, welche die Vormundschaftsbehörde Kreuzlingen 2008 verhängt hat. Die Klage wird unterstützt vom Verein Psychex, der gegen psychiatrische Zwangsmassnahmen kämpft.
STRASSBURG. Nächsten Dienstag behandelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Klage eines 33 jährigen Kreuzlingers gegen die Verletzung von Artikel 5,4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
Dieser gibt jedem Bürger das Recht, eine Freiheitsentziehung unverzüglich durch einen Richter prüfen zu lassen. Die Vormundschaftsbehörde hatte am 2. April 2008 eine fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) über den Kreuzlinger erlassen. Der Grund war seine «chronische paranoid-halluzinatorische Schizophrenie», wie es in den Urteilen des Thurgauer Verwaltungsgerichts und des Bundesgerichts heisst. Es war seine siebte Einlieferung. Weitere folgten.
Zu lange gewartet
Die Vormundschaftsbehörde habe rund 100 Tage zugewartet, bis sie seine Beschwerde gegen die FFE entschied, lautet eine seiner Klagen. Auch das Bezirksgericht war nicht darauf eingetreten, da die Vormundschaftsbehörde dafür zuständig sei. Eingeklagt wird ferner die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6,1 EMRK). Denn der Kreuzlinger habe von der Vormundschaftsbehörde keinen begründeten Entscheid erhalten. Seine Beschwerden wurden von den Schweizer Instanzen abgewiesen. Nur die unentgeltliche Rechtspflege wurde ihm vom Thurgauer Verwaltungsgericht zugesprochen. Unterstützt wird der Psychiatriepatient vom 1987 gegründeten Verein Psychex in Zürich, der sich dem Kampf gegen psychiatrische Zwangsmassnahmen verschrieben hat. Als juristischer Vertreter fungiert Adriano Marti, Rechtsanwalt aus Saland im Zürcher Oberland. Marti gehört nicht dem Verein an, übernimmt aber Fälle, die ihm von Psychex vermittelt werden. Er hat erst auf Anfrage dieser Zeitung davon erfahren, dass der Fall am Dienstag verhandelt wird. Marti hätte erwartet, dass er direkt informiert wird: «Sie machen, was sie wollen.» Die Beschwerde habe er schon 2009 eingereicht.
Ähnliche Fälle habe er noch weitere aus dem Thurgau. Jeder Bürger brauche Rechtsschutz, wenn seine Freiheit entzogen werde. «Sonst ist man gegenüber den Fachleuten verloren.» Wenn die Polizei jemanden in U-Haft setze, müsse er innert 72 Stunden dem Haftrichter vorgeführt werden. Da könne er auch einen Anwalt verlangen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung gebe es nicht bei der Einlieferung in die Psychiatrie: «Ich sehe nicht ein, weshalb das anders sein soll bei Bürgern, die nichts ausgefressen haben.»
Seit Einführung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) würden Beschwerden vermehrt innert der vorgeschriebenen fünf Tage behandelt: «Eine der wenigen Verbesserungen.» Schlechter geworden sei dass die Kesb gleichzeitig als Verwaltungs- und als Gerichtsbehörde entscheide. Er habe erlebt, dass die Kesb als Gericht eine Beschwerde gegen eine ärztliche Fürsorgerische Unterbringung (FU) abgelehnt und gleichzeitig eine behördliche FU angeordnet habe, die grundsätzlich unbeschränkt lange daure. Damit verstosse die Kesb gegen den Prozessgrundsatz, dass ein Gericht nicht etwas anderes beurteilen und zusprechen dürfe, als der Betroffene verlange.
Kundenfreundliche Praxis
Diese Praxis sei «kundenfreundlich», sagt Andreas Hildebrand, Präsident der Kesb Arbon und Sprecher der Thurgauer Kesb. Wenn ein Arzt eine FU anordne, müsse die Kesb nach sechs Wochen darüber befinden, ob eine allfällige Verlängerung gerechtfertigt sei. Gehe eine Beschwerde ein, prüfe die Kesb die FU beispielsweise bereits nach drei Wochen. Da sei es sinnvoll, auch bereits darüber zu befinden, ob eine Verlängerung nach sechs Wochen gerechtfertigt sein könnte. Die Kesb schenke dem Betroffenen so klaren Wein ein.
(THOMAS WUNDERLIN)