Wenn das Kind dem Mami den Papi ersetzt


Die Mutter fühlt sich nach der Scheidung einsam und macht unbewusst die Tochter zum Partner-Ersatz. Diese verzweifelt fast an ihrer Aufgabe. Eine gefährliche Entwicklung.

«Schon gut, geh nur. Ich bleibe hier auf dem Sofa, trinke ein Glas Wein und schaue ein bisschen fern», sagt das Mami zu T.K.*, die mit schlechtem Gewissen an der Tür steht, bereit für den Ausgang. Ihre Eltern haben sich kürzlich scheiden lassen. K.s Vater hat eine neue Partnerin, ihre Mutter ist allein.

Die 17-jährige K. weiss den traurigen Blick sehr wohl zu deuten, wenn sie das Haus verlässt. Sie hört auch den kleinen Seufzer am Telefon, wenn sie anruft, um zu fragen, ob es okay sei, wenn sie am Sonntag ausnahmsweise nicht zum gemeinsamen Znacht komme, weil sie ein Date habe. Sie sieht die hastig weggewischten Tränen und die halbleere Weinflasche, wenn sie dem Mami unangemeldet einen Besuch abstattet und sie mitten am Nachmittag im Pyjama auf dem Sofa vorfindet. «Manchmal möchte sie, dass ich sie in den Arm nehme, sie sagt dann: ‘Ich habe ja sonst niemanden, der mich festhält’.»

Sie habe ein derart starkes Pflichtgefühl gegenüber ihrer Mutter entwickelt, dass sie der Meinung sei, für ihr Glück verantwortlich zu sein. Sie versuche andauernd die Rolle ihres Vaters zu übernehmen und habe sogar auf einer Dating-Plattform einen neuen Freund für ihre Mutter gesucht, erzählt K. An manchen Abenden sage sie ihren Freunden ab, um bei ihrer Mutter zu bleiben. «Schlimm sind vor allem die Samstage, da haben meine Eltern immer etwas zusammen unternommen.» Wenn K. dann doch in den Ausgang geht, hat sie ein schlechtes Gewissen. «Ich kann den Abend dann gar nicht geniessen.» Eine Freundin von ihr habe ein ähnliches Problem mit ihrem Vater: «Der schleppt sie an alle Dates mit, weil er wissen will, was sie von den Frauen hält.»

Ein Drittel der Scheidungskinder betroffen

Matthias Zingg, Fachpsychologe für Psychotherapie mit eigener Praxis in Bern, kennt dieses Phänomen: «Ich schätze, rund ein Drittel der Scheidungskinder geraten in eine derartige Situation.» Meist seien es emotional instabile Eltern, die ihre Kinder unbewusst als Ersatzpartner einspannten. «Dabei geht es nicht um eine böse Absicht der Eltern, die Mutter oder der Vater übersehen schlicht aufgrund ihrer Bedürfnisse bezüglich eines Partners, dass sie in der Rolle als Eltern in erster Linie für ihr Kind da sein müssen und nicht umgekehrt.» In der Regel sei die Auswirkung auf die Entwicklung der Kinder negativ, wenn Eltern ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse über sie abzudecken versuchten.

Auch wenn die Mutter sage: «Geh nur, ich komm schon zurecht», entgingen dem Kind die Signale nicht, die gleichzeitig über einen anderen Kanal gesendet würden. Dem Sohn oder der Tochter sei bewusst, dass ihre Mutter versuche, eine gute Mutter zu sein und ihnen ihren Freiraum zu lassen. Gleichzeitig realisierten sie aber auch, dass ihre Mutter leide, weil sie einsam sei.

«Hier kommt es auf den Entwicklungsstand der Persönlichkeit des Jugendlichen an», so Zingg. Teenager hätten aber oft noch keinen sehr gefestigten Charakter und könnten das Leiden des Elternteils nicht einfach in Kauf nehmen, sondern seien damit komplett überfordert. «Ich rate den betroffenen Jugendlichen deshalb, entweder mit einer Bezugsperson aus der Familie Kontakt aufzunehmen oder sich an eine geeignete Fachstelle für Jugendberatung oder Schulsozialarbeit zu wenden.»

15 Prozent mehr Anrufe als 2013

Dies rät auch Christina Reusser, Leiterin Fachstab Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Zürich. Schulsozialarbeitende seien stark mit diesem Thema konfrontiert und daher sehr erfahren. Sie spricht von einem ernstzunehmenden Problem: «Scheidungen nehmen zu und somit auch die daraus resultierenden Konsequenzen für die Kinder.» Ein weiterer Aspekt, der oft in diesem Zusammenhang auftauche, seien Gespräche, die Eltern normalerweise mit ihrem Ehepartner führen würden. «Da dieser jedoch nicht mehr da ist, müssen die Kinder diesen Part übernehmen.» Diese Erwachsenengespräche überforderten sie zusätzlich. Deswegen müssten auch die Eltern begleitet werden, wie man mit dieser Stresssituation richtig umgehe.

Daniela Melone, Leiterin Elternberatung von Pro Juventute, kennt sich mit diesem Problem aus: «Der Fachbegriff dafür lautet ‘Parentifizierung’». Das Thema sei wichtig, sagt auch sie. «Gemäss den Erfahrungswerten unserer Berater der Notrufnummer 147 erhalten sie regelmässig Anfragen von Kindern zum beschriebenen Thema». Zum Thema Scheidung meldeten sich pro Woche aktuell etwa vier bis fünf Jugendliche bei der Notrufnummer. Dies seien rund 15 Prozent mehr gegenüber dem Vorjahr.

«Ängste, Verhaltensauffälligkeiten oder Depressionen»

Wenn Elternteile aus Einsamkeit ihren Kindern nicht mehr adäquat begegneten, da ihre Bedürftigkeit so gross sei, dass sie die Grenzen zwischen Eltern und Kind nicht mehr aufrechterhalten könnten, sei ein Gespräch wichtig: «Eltern und Kinder sollten über ihre Gefühle miteinander reden, so werden Kinder unter Umständen von Schuldgefühlen, die sie entwickeln, entlastet.»

Denn in der Regel sei diese Situation für das Kind sehr belastend: Die Eltern seien nicht mehr in der Lage, ihre Rolle wahrzunehmen und das Kind fülle diese Lücke – «es übernimmt quasi die Elternrolle für den Elternteil». Kinder würden mit dieser Verantwortung überfordert. Melone warnt: «Als Folge können, je nach Widerstandsfähigkeit und Beziehungsnetz des Kindes, schwerwiegende Probleme oder gar Störungsbilder auftreten wie etwa Ängste, vermindertes Selbstwertgefühl, Verhaltensauffälligkeiten oder Depressionen.»

«Ich kann nicht mehr», sagt auch K. Der Spagat, für das Mami da zu sein und trotzdem das eigene Leben führen zu wollen, mache sie wahnsinnig. Deshalb hat K. ihre Tante angerufen. «Ich hab mich dabei wie eine Verräterin gefühlt.» Doch die Tante konnte ihre Mutter davon überzeugen, eine Gesprächstherapie zu machen. «Ich hoffe inständig, es geht ihr bald besser und mein schlechtes Gewissen verschwindet irgendwann.»

* Name der Redaktion bekannt


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Veröffentlicht unter Allgemein