Die höflichsten Demonstranten der Welt


In Hongkong demonstrieren Zehntausende zivilisiert und durchorganisiert. Die Bürger haben etwas entdeckt, was sie nicht kannten – und kaum erklären können.

In diesen tiefen Häuserschluchten, wo oben die Reichen hinter verspiegelten Scheiben sitzen und unten das Volk verdrossen seines Weges geht, wo sich niemand grüsst, sich niemand in die Augen schaut – in dieser Stadt macht sich plötzlich ein Gefühl breit, das niemand richtig erklären kann. Ein Gemeinschaftsgefühl, ein Ziehen am selben Strick, als hätten diese braven Bürger nie anders gelebt.

Calvin, ein zappeliger 21-Jähriger steht bei einem Lebensmittel-Lager, verteilt Gaben an die Demonstranten und versucht, zu erklären. Er ringt nach Worten, haspelt schliesslich: «Für unsere Stadt ist das einfach nicht normal, das ist unfassbar, sieh dich doch mal um.» Dann sagt er doch noch: «Jeder will das System vorwärts bringen, deshalb rücken wir zusammen und jeder hilft, wo er kann.» Timothy, sein 26-jähriger Mitstreiter, nickt. «Wir sind plötzlich zu einer Familie geworden, aber ich weiss nicht, woher das kommt.»

Und diese neue Familie strömt auch am Montag wieder aus allen Löchern ins Herz von Hongkong. Mitten in den Finanzdistrikt, zum Regierungssitz. Tausende, ach was, Zehntausende Menschen – alle mit demselben Ziel: Hingehen, aufstehen, dagegenstemmen. Gegen den da oben, diese aus Peking gesteuerte Marionette: Regierungschef Leung Chun Ying.

Zwei Männer tragen ihn durch die Menge, das Konterfei des Teufels. Wohin sich sein feixendes Gesicht wendet, brandet Wut auf. Die Menge schimpft: Zurücktreten soll er, oder sich zumindest den Fragen und Forderungen der Studenten stellen. Alles – nur nicht schweigen. Als der Zorn verebbt, stimmen drei junge Frauen aus dünner Kehle ein Lied an. Es ist ein Lied des Friedens, die Bürger lernen es in der Schule, weitere stimmen ein, wie ein Flächenbrand breitet es sich aus und schliesslich singen es diese erstaunlichen Widerspenstigen aus voller Brust.

Waberten am Sonntag an der gleichen Stelle im Herzen Hongkongs noch Tränengas-Schwaden durch die Luft, herrscht am Montag Ruhe. Die Polizei hat sich aus der Zone zurückgezogen, überblickt aus der Ferne, wie die Menge wächst und wächst. Der Verkehr ist längst lahmgelegt, auf den riesigen Highways nur die schiere Masse unterwegs. Sie sind einfach da, sitzen und stehen in Gruppen, stimmen manchmal Sprechchöre an, manchmal Gesang – aber alles in geordneten Bahnen, bestens organisiert.

Zwei Mädchen laufen mit Abfallsäcken durch die Menge, holen Müll bei den Grüppchen ab, sammeln Flaschen vom Boden auf. Man soll ihnen bloss nicht nachsagen können, sie hätten die Stadt verschmutzt. Wo Strassen gesperrt sind, hängen Schilder: «Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, aber wir kämpfen gerade für Demokratie.»

Die Menge verhält sich in stiller Übereinkunft so, wie es sich aus ihrer Sicht gehört: Zigaretten? Die werden abseits geraucht, ausser Sichtweite, während einer Pause. Demonstrieren ist eine ernsthafte Aufgabe, da ziemt es sich nicht. Alkohol? Hat in diesen Tagen und an diesem Ort keinen Platz. Blinde Aggression, Pöbeleien? Weit gefehlt. Wer sich in der Masse aus Versehen anrempelt, entschuldigt sich höflich.

Der Polizei keinen Grund liefern

Cheung Yeuk Man, eine 19-jährige Studentin, strahlt eine Abgeklärtheit aus, als hätte sie das Leben bereits gelebt. Ihre Erklärung für die übereinstimmende Gewaltlosigkeit, das Fehlen jeglicher Chaoten, Pflastersteine oder Molotowcocktails ist so simpel wie clever: «Wir wenden deshalb keine Gewalt an, weil sonst die Polizei einen Grund hätte, uns niederzuschlagen. So aber wenden sie Gewalt gegen friedliche Menschen an.»

In anderen Ländern wäre eine Ansammlung Zehntausender junger Menschen in dieser Friedlichkeit undenkbar. Unruhestifter, etwa junge Männer mit sinnlosem Geltungs- und Zerstörungsdrang, gibt es in Hongkong nicht. Die Starken helfen den Schwachen. Etwa beim Überqueren von Geländern, beim Tragen von Schachteln voller Trinkflaschen, immer eine helfende Hand, wohin das Auge blickt.

«Wir sind Mäuse, sie sind Elefanten»

Zu Bergen türmen sie die Vorräte auf, die Wasserflaschen, Handtücher, Regenschirme, Mundschütze, Kekse, Bananen, Cracker, Brote, Taschentücher, Klarsichtfolien, Schutzbrillen – alles, was nötig ist und dereinst nötig sein könnte, ist vorhanden.

Der Montag endet friedlich, kein Zusammentreffen mit der Polizei, keine Verletzten. Doch dieser Frieden, ein Kontrast zu den vergangenen drei Tagen, ist trügerisch. Studentin Cheung Yeuk erwartet die Polizei bald. Aber gehen will sie nicht. «Erst wenn CY Leung zu uns spricht, wenn er sich den Problemen stellt, erst dann haben wir unser Ziel erreicht.» Doch Calvin warnt: «Wir sind Mäuse, sie sind Elefanten. Wenn sie wollen, zerdrücken sie uns.»


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Veröffentlicht unter Allgemein, Politik, Widerstand