Die Ausgaben für Unterbringung und Versorgung haben sich seit 2008 fast verdoppelt. Gemeinden kritisieren Sommarugas geplante Reform.
Bern Erst im letzten Satz kam der Mann zur Sache: «Zudem ist den Kantonen für unbegleitete minderjährige Asylsuchende aus Eritrea endlich eine kostengerechte Entschädigung zu gewähren.» So schloss der Luzerner Regierungsrat Guido Graf (CVP) am Dienstag seinen an Bundesrätin Simonetta Sommaruga adressierten Brief. Damit machte er klar, worum es ihm bei seiner Forderung nach Aberkennung des Flüchtlingsstatus für Eritreer wirklich ging: ums Geld.
Tatsächlich bereitet die Finanzierung des Asylwesens den Kantonen und Gemeinden Kopfzerbrechen. Je nach Status – ob anerkannter Flüchtling oder vorläufig aufgenommene Person – zahlt der Bund die Sozialhilfe nur für fünf respektive sieben Jahre. Dann überlässt das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Kosten den Kantonen oder Gemeinden. Beat Tinner, FDP-Gemeindepräsident von Azmoos SG, sagt: «Wir sind die Endstation der Flüchtlinge, hier bleiben sie, die meisten ein Leben lang. Bund und Kanton sind höchstens einige Jahre zum Zahlen verpflichtet, wir bis ans Ende.»
Es geht um Summen in mehrstelliger Millionenhöhe und ein Problem, das sich weiter zuspitzt. Eine Übersicht der Asylfürsorgezahlungen des Bundes an die Kantone seit 2008 zeigt den dramatischen Anstieg der Kosten. Spitzenreiter ist der Kanton Glarus .
Vor sechs Jahren überwies der Bund 60 000 Franken für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge ins Glarnerland. 2014 waren es 1,44 Millionen Franken. Ein Wachstum von knapp 2400 Prozent. Im Thurgau stieg die Sozialhilfe für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge um 1400 Prozent an, in Uri um 1000 Prozent. Gesamthaft kletterten die Beträge von 350 Millionen Franken im Jahr 2008 auf 683 Millionen Franken im Jahr 2014.
Immer weniger Flüchtlinge haben eine Arbeit
Der Hauptgrund: die Flüchtlingszunahme. 2008 betreute Glarus 9 Dossiers mit 22 Personen im Flüchtlingswesen. Heute sind es 170 Dossiers mit 245 Personen. Der Urner Sozialamtsvorsteher Werner Danioth sagt: «Die Zahl der anerkannten Flüchtlinge hat sich in Uri zwischen 2011 und Ende 2014 verdoppelt.» Nur: Allein damit lässt sich die Kostenexplosion nicht erklären. Auch das zeigt das Beispiel Glarus. Während sich der Personenbestand von 22 auf 245 rund verzehnfachte, haben sich die Sozialleistungen verzwanzigfacht.
Über die anderen Gründe der Kostenexplosion reden die Behörden weniger: etwa über die zurückgehende Erwerbsquote. Im Jahr 2012 erwirtschafteten Asylsuchende und vorläufig aufgenommene Personen schweizweit Einkommen von gesamthaft 84 Millionen Franken, vorwiegend in der Gastronomie und im Tourismusbereich. Das lässt sich aus der Sondergabe von 10 Prozent lesen, mit der Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge vom Staatssekretariat für Migration (SEM) zusätzlich belastet werden (es werden auch Einkommenssteuern erhoben). 2013 lag die Lohnsumme bei 67 Millionen; 2014 ging sie zurück auf 54 Millionen Franken.
Es gibt also nicht nur immer mehr Flüchtlinge, sie sind zudem immer schlechter in den Arbeitsmarkt integriert.
Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe Schweiz sagt: «Das Integrationssystem hat versagt und muss neu entwickelt werden. Wir sollten vom zwanzig Jahre dauernden Abwehrmodus auf Empfang umstellen.» Frey fordert von Bund und Kantonen ein neues Programm mit dem Ziel, die Zeit in der Sozialhilfe drastisch zu verkürzen.
Zaghafte Projekte laufen in diese Richtung. Das SEM hat mit dem Bauernverband ein Programm gestartet, bei dem zehn Landwirte statt mit Arbeitskräften aus Osteuropa mit anerkannten Flüchtlingen arbeiten. Vorbild ist ein Bauer in Füllinsdorf BL. Der Familienbetrieb Eschbach stellt jährlich 20 Arbeiter aus Somalia, Eritrea, Syrien oder Afghanistan im Betrieb an, die für 3200 Franken monatlich auf der Gemüsebauanlage arbeiten. Laut eigenen Angaben könnte der Hof das Zehnfache an Leuten anstellen, hätte er genügend Arbeitsplätze. So gross sei das Interesse. Selbst von Asylsuchenden aus Deutschland und Schweden erhalte er Bewerbungen.
Warum also suchen die Kantone nicht konsequenter die Nähe zum lokalen Gewerbe? Die Glarner Asylkoordinatorin Christine Saredi sagt: «Wir betreuen aktuell 140 Personen mit dem Ziel, diese beruflich zu integrieren.» Doch genau das sei schwieriger geworden. Mussten früher Personen aus dem Irak oder aus Sri Lanka auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden, sind es heute solche aus Ländern mit tieferen Bildungsniveaus. «Viele müssen alphabetisiert werden», sagt Saredi. Gleichzeitig trockne der Jobmarkt aus. Saredi sagt: «Die niederschwelligen Arbeitsmöglichkeiten sind in Glarus zurückgegangen.» Genauso wie in anderen Kantonen an der Spitze der Kostenexplosion wie Thurgau oder Uri.
Die Hoffnungen der kantonalen Migrationsämter ruhen auf dem von Bundesrätin Sommaruga anvisierten «Meilenstein»: das neue Asylwesen, wie es ab 2018 oder 2019 funktionieren soll. Kernpunkte: schnellere Verfahren und Integration von Asylsuchenden, die im Land bleiben. Derzeit ist der Bund daran, Standorte für neue Zentren zu suchen. Künftig sollen jene, die die Schweiz verlassen müssen, gar nicht erst auf die Kantone verteilt werden, sondern in Bundeszentren verbleiben und möglichst rasch ausgeschafft werden.
Bei der Ausarbeitung des Konzepts versuchte der Bund erstmals, alle Asylkosten zu erheben. Die Arbeitsgruppe Neustrukturierung (Agna) arbeitete dazu mit zwei Modellen: mit dem gegenwärtigen Asylsystem und jenem, wie es Sommaruga plant. Ein einzelner Asylsuchender kostet in der Ist-Situation jährlich durchschnittlich 25 700 Franken, im neuen System sind es 500 Franken mehr, rund 26 205 Franken. Asylsuchende werden also teurer. Aber nur kurzfristig. Das neue System soll es erlauben, sie schneller abzuweisen oder von der Sozialhilfe wegzubringen.
Kantone zweifeln Zahlen von Sommaruga an
Die Modellrechnungen der Agna sind bei Praktikern in Gemeinden allerdings umstritten. Dort herrscht Unsicherheit über die künftigen finanziellen Verpflichtungen. Die Kritik: Sommarugas «Meilenstein» sei viel zu optimistisch berechnet. Auf den ersten Blick führen alle Kantone günstiger – weil «Annahmen» getroffen würden, die sich als unrealistisch erwiesen hätten. Erstens werde mit 20 000 Gesuchen pro Jahr gerechnet – also 9000 weniger als 2015 erwartet. Zweitens werde davon ausgegangen, dass mehr Asylsuchende einen Job fänden und keine Sozialhilfe brauchten. Um 5 Prozentpunkte soll die Erwerbsquote steigen – nur wird von den Kantonen seit 2010 die gegenteilige Tendenz beobachtet. In Glarus etwa ist die Erwerbs-quote der arbeitsfähigen Personen mit Ausweis N und F von 39 auf 20 Prozent gesunken.
Das SEM hält fest, die Annahmen seien realistisch. So wurden im Durchschnitt der letzten 12 Jahre weniger als 18 000 Asylgesuche im Jahr verzeichnet. «Kommt hinzu, dass das SEM den Testbetrieb auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit evaluiert und Ende Jahr in der Lage sein wird, die reale Situation mit den Modellberechnungen zu vergleichen», sagt Sprecherin Gaby Szöllösy.
Die Kritik anderer Gemeindevertreter, die sich nur anonym äussern wollen, führt aber weiter. In der Kostenaufstellung würden wichtige Posten fehlen, heisst es. Tatsächlich stützt sich das Modell bei der medizinischen Betreuung und der Ausbildung auf gesamtschweizerische Durchschnittswerte. Bei Asylsuchenden liegt der Aufwand aber oft höher, «aus nachvollziehbaren Gründen und durchaus zu Recht», sagt ein Gemeindevertreter. «Man darf dann nicht erstaunt sein, wenn Sommarugas Modell viel teurer herauskommt als geplant.»
Gemeindevertreter wollen die «effektiven Kosten» sehen
Im Detail wird bemängelt, dass Leistungen wie Therapien, etwa bei Traumata, die aus der Gemeindekasse bezahlt werden, nicht in Sommarugas Rechnung einflössen. Das gelte auch für Rollstühle oder Hörgeräte. Die Invalidenversicherung springt meistens nicht ein, und auch die Leistungen der Grundversicherung sind begrenzt, wobei diese bei Sozialhilfebezügern ohnehin von der öffentlichen Hand getragen werden.
Und bei Kindern und Jugendlichen ist der Anteil jener, die besonderer Betreuung bedürfen, in den letzten Jahren klar gestiegen. Für die Volksschule bedeutet dies: Förderunterricht, Stützkurse in Deutsch, im äussersten Fall Sonderpädagogik, wo Massnahmen rasch gegen 80 000 Franken jährlich kosten. In Sommarugas Kostenmodell wird lediglich mit den Grundausgaben für den eigentlichen Unterricht in der Volksschule gerechnet, gut 20 000 Franken pro Jahr.
Während das Asylwesen umgebaut wird, geht der Streit um die Kosten also weiter. Die Gemeindevertreter betonen, es gehe ihnen nicht darum, mehr Entschädigungen zu erwirken, sondern, so sagt ein Gemeindepräsident: «Wenn man schon die effektiven Kosten berechnet, dann soll man alles einrechnen.» Mehr Transparenz also.
Bevor das neue Asylmodell durchgerechnet werden kann, muss der Kostenstreit geschlichtet werden. Sommarugas «Meilenstein» geht von 524 Millionen Franken Kosten aus. Berücksichtigt man aber die für dieses Jahr erwarteten 29 000 Asylgesuche und rechnet die hoch, resultieren 760 Millionen Franken. Zuzüglich Folgekosten für Weiterbildung, Therapien oder die nach fünf Jahren anfallenden Sozialbeiträge der Gemeinden steigen die Kosten nahe an die Milliardengrenze.
(Von Barnaby Skinner und Daniel Glaus)