Was machen sie eigentlich konkret, die neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden? Bei der Kesb Frauenfeld warfen Inge Staub (Text) und Reto Martin (Fotos) einen Blick hinter die Kulissen.
FRAUENFELD. Simba liegt im Flur und langweilt sich. Als Barbara Merz die Türe öffnet und die Besucher herein bittet, wedelt er freudig mit dem Schwanz. Simba ist der Kesb-Hund. «Er ist sehr hilfreich, wenn Kinder hier sind, er wirkt beruhigend auf sie», sagt Barbara Merz, Präsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Frauenfeld.
Am Ende eines Wohngebietes in Frauenfeld West nahe der Zuckerfabrik sind die Büros der Kesb auf zwei Stockwerken verteilt untergebracht. Die Räume sind hell und freundlich. Zwei Büros sind an diesem Morgen verwaist. Die 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Juristen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Finanzfachleute und Sachbearbeiterinnen – arbeiten alle Teilzeit.
Im Sekretariat sortiert die Sekretärin die Post. «An manchen Tagen geht es bei mir zu wie im Taubenschlag. Doch heute scheint es ruhig zu sein», sagt sie. Kaum hat sie den Satz beendet, läutet auch schon das Telefon. Mit ruhiger Stimme nimmt sie den Anruf entgegen und verbindet weiter. Kaum hat sie aufgelegt, meldet sich das Telefon erneut.
990 Ordner übernommen
Einer der Sozialarbeiter kommt herein und holt sich aus dem Aktenschrank ein Dossier. Die Schubladen sind angeschrieben: Berlingen, Eschenz, Mammern. Der Schrank enthält die Akten der Gemeinden vom Untersee und von der Stadt Frauenfeld. «Das sind nur die aktuellen Fälle», sagt die Sekretärin. Im Jahr 2013 hat die Behörde 990 Aktenordner von ihren Vorgängern, den 23 Vormundschaftsbehörden der Gemeinden im Bezirk Frauenfeld, übernommen. Im Jahr 2013 hatte die Behörde rund tausend Fälle bearbeitet.
Ein Stockwerk höher befinden sich weitere Büros. Gleich im ersten stehen die Aktenschränke für die Frauenfelder Landgemeinden. Im nächsten Büro arbeitet ein Behördenmitglied eine Akte auf. «Wir müssen bis Ende 2015 die altrechtlichen Erwachsenenschutzmassnahmen ins neue Recht überführen», sagt es. «Damit sind wir, zusätzlich zum Alltagsgeschäft, ziemlich gefordert.» Die Frau ist für sieben Gemeinden zuständig. Auf ihrem Tisch stapeln sich die Akten. Das Telefon klingelt. Sie unterbricht ihre Arbeit. Die Mutter eines 13-Jährigen bittet um sofortige Hilfe. «Der Bub war einige Zeit im Heim. Dann kam er zu den Eltern zurück. Jetzt ist er von dort abgehauen», erzählt die Sozialpädagogin. «Die Eltern fühlen sich überfordert und wünschen, dass er wieder ins Heim kommt.» Die Kinderschutzexpertin muss nun sofort handeln. Sie veranlasst, dass die Eltern schriftlich bestätigen, darauf zu verzichten, über den Aufenthaltsort ihres Sohnes bestimmen zu können. Als nächstes gilt es, Polizei und Heim zu verständigen.
Inzwischen ist es 9.45 Uhr. Die anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kesb versammeln sich im oberen Stockwerk in der Küche um einen länglichen Stehtisch. Die Kaffeetasse in der Hand, probieren sie das süsse Gebäck, das auf einem Teller liegt. «Das habe ich von meinen Ferien aus Ägypten mitgebracht», erzählt eine der Sozialpädagoginnen. Barbara Merz erklärt: «Diese Pause ist wichtig für uns. Hier atmen wir 15 Minuten mal durch. Wir reden über unsere Freizeiterlebnisse, über Bücher, über Kinobesuche. Über unsere Fälle sprechen wir hier nicht.» Denn in den allermeisten handelt es sich um Situationen, die die Betroffenen sehr belasten und sehr emotionale Gespräche zur Folge haben. «Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen oft sehr rasch einschätzen, wie es einer Person geht und was sie braucht.»
Wenige Minuten später ist Barbara Merz bereits wieder auf dem Sprung. Sie hat eine Anhörung. Die Kesb-Präsidentin hat einen Vater zum Gespräch eingeladen. Thema sind das Besuchsrecht und die Frage, ob die Mutter in der Erziehung Hilfe benötigt. «Wir ordnen keine Massnahme an, ohne dass wir die Betroffenen mindestens einmal angehört haben», sagt sie. Auch Kinder werden angehört. «Wir versuchen herauszufinden, wo das Problem ist und wie die Betroffenen unterstützt werden können.» Reicht es, wenn ein Beistand die Familie betreut? Benötigt ein Elternteil oder eines der Kinder eine Therapie? Entscheidet sich die Behörde für eine Massnahme, erhalten die Betroffenen einen schriftlichen Entscheid. Gegen diesen können sie Rechtsmittel ergreifen. Ausgeführt werden die Massnahmen von Berufsbeiständen oder von privaten Personen, die sich für die Führung einer Beistandschaft zur Verfügung stellen, sowie von weiteren Fachpersonen. «Von ihnen erhalten wir regelmässig Bericht, ob die Massnahmen greifen.»
Während Barbara Merz mit dem erwähnten Vater die Situation bespricht, treffen sich drei ihrer Mitarbeitenden, eine Juristin, ein Sozialpädagoge und eine Sozialpädagogin, im anderen Sitzungszimmer zur Fallbesprechung. Die Kinderschutzexpertin informiert ihre Kollegin und den Kollegen über den Notfall, der am Morgen reinkam. Dann stellt sie ihre anderen aktuellen Fälle vor. Sie berichtet von der 19-Jährigen, die ihre IV-Lehre abgebrochen hat und krank zu Hause herumhängt. «Ihr Vater hat mich informiert. Er ist in Sorge, weil das Mädchen die ärztliche Behandlung abgebrochen und keine Perspektive hat. Ich habe das Mädchen eingeladen, gehe jedoch davon aus, dass es nicht kommen wird. Ich überlege mir nun, wie ich an die junge Frau herankomme», sagt die Sozialpädagogin. Ihr Kollege schlägt vor, sie solle sich die Handynummer besorgen und schon mal telefonisch mit ihr Kontakt aufnehmen. Auch wäre es hilfreich, sie würde die IV-Akte kommen lassen.
Kind fällt in der Kita auf
Die Juristin stellt eine Gefährdungsmeldung zur Diskussion. Im Zentrum steht ein vierjähriger Bub. Er wächst gemeinsam mit seiner 13jährigen Schwester bei der Mutter auf. In der Kita fiel auf, dass er sich extrem an die Betreuerinnen klammert. Diese befürchten, mit dem Buben stimme etwas nicht. Die Abklärungen ergaben, dass die alleinerziehende Mutter psychisch krank ist. Die Kesb schaltete die Sozialpädagogische Familienbetreuung (SPF) ein, die sich seither um die Familie kümmert. «Die SPF ist der Meinung, dass es der Mutter, die depressiv ist, sehr schlecht geht und dass sie eine Therapie in der Psychiatrischen Tagesklinik machen muss», berichtet die Juristin. Die Kesb muss nun entscheiden, was Mutter und Kinder während dieser Zeit an Unterstützung brauchen. Die Runde diskutiert über verschiedene Möglichkeiten.
Nur so viel wie nötig
Eine Fremdplazierung der Kinder ist nicht notwendig. Der Bub wird tagsüber in einer Kita betreut, das Mädchen besucht die Schule, und die Mutter ist abends und am Wochenende zu Hause. «Sinnvoll ist, einen Beistand einzusetzen, der sicherstellt, dass das Wohl der Kinder gewährleistet ist und welcher der Mutter zur Seite steht», schlägt die Kinderschutzexpertin vor. «Angeordnet wird stets nur so viel wie nötig, so wenig wie möglich.» Eine Fremdplazierung sei selten, sie sei das letzte Mittel, wenn das Umfeld das Kind nicht mehr auffangen könne.
Am Nachmittag lässt sich eine Rechtsanwältin in die Karten schauen. Gerade schreibt sie einen Brief an eine Mutter, die bislang das alleinige Sorgerecht über ihre drei Kinder hatte. Seit Juli 2014 ist das gemeinsame Sorgerecht der Eltern die Regel. Immer wieder wenden sich seither Väter an die Kesb mit dem Wunsch, ebenfalls das Sorgerecht für ihre Kinder zu erhalten. «Wir klären den Sachverhalt zunächst schriftlich ab. Ist die Mutter einverstanden, kann dem Wunsch des Vaters entsprochen werden.» Lehnt die Mutter das Gesuch ab, werden die Eltern zu einem Gespräch eingeladen. Dabei gilt es herauszufinden, ob wichtige Gründe bestehen, das gemeinsame Sorgerecht zu verweigern. Rein emotionale Argumente wie Wut oder verletzte Gefühle gehören nicht dazu.
Im Büro nebenan sitzen ein Sozialversicherungsfachmann und eine Fachfrau Finanz- und Rechnungswesen vor dem Computer. «Wir prüfen gerade die Rechnung für einen betagten Mann», erzählt der Experte. Er lebt in der Demenzabteilung eines Pflegeheimes und ist nicht mehr in der Lage, sich um seine Finanzen zu kümmern. Die Kesb setzte deshalb einen Beistand ein. «Wir haben gerade festgestellt, dass der Beistand nicht alle Ergänzungsleistungen geltend gemacht hat. So ist der betreuten Person ein Schaden in Höhe von rund 10 000 Franken entstanden. Wir prüfen nun, wer hierfür aufzukommen hat.» Die Formulare waren falsch ausgefüllt worden; dem Beistand war dies nicht aufgefallen. «Für private Beistände ist es nicht einfach, mit den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen klarzukommen. Für viele ist das der totale Dschungel.»
Buchhaltung wird kontrolliert
In einem anderen Fall prüfen die beiden Experten, ob der Beistand das Vermögen einer Seniorin gut verwaltet und risikoarm anlegt. «Die Beistände müssen uns regelmässig einen Bericht und die Buchhaltung vorlegen.» Mit Einführung des neuen Rechts sind die Anforderungen an die Rechnungsführung gestiegen. Die Rechnungsprüferin berichtet weiter von einem jungen Mann, dessen Eltern verstarben, als er 15 Jahre alt war. Jetzt ist er volljährig. Ein Beistand hatte sein Erbe verwaltet. «Wir prüfen jetzt seinen Schlussbericht und die Buchhaltung.» Die Rechnungsprüferin betont: «Wir verstehen uns als Anwälte der betroffenen Person.»
Gleich ist es 17 Uhr. Bis dahin ist das Kesb-Team telefonisch erreichbar. Einige nutzen die Ruhe, um noch Schreibarbeiten zu erledigen. Ein Mitarbeiter schaltet das Pikett-Telefon ein: Er hat für eine Woche Notfalldienst. Barbara Merz sucht Unterlagen zusammen für einen Vortrag, den sie demnächst halten wird. Thema: «Die Kesb – was macht sie eigentlich? Möglichkeiten und Grenzen». Währenddessen wartet Simba bereits ungeduldig darauf, dass auch sie bald ihren Mantel holt.
Barbara Merz, Präsidentin KESB FrauenfeldFrüher: Rechtsmitteleingaben lesen, entscheiden, Urteil schreiben – der gordische Knoten ist gelöst. Heute: Zuhören, geduldig sein, zuhören, geduldig sein – schön, dass wir darüber gesprochen haben. Luxusprobleme (zweitinstanzlich streitet jede(r) freiwillig) contra «s’ghat um’s Läbig». Arbeit im stillen Kämmerlein contra sich draussen den Wind um die Ohren pfeifen lassen*. Die grössten Herausforderungen: Trotz Interdisziplinarität (!) und nicht funktionierender EDV speditiv pragmatische Lösungen finden statt Probleme sichten; von den Gemeinden in einem Jahr hören, sie seien (wider Erwarten) von unserer Arbeit genau so überzeugt wie früher von derjenigen ihrer Vormundschaftsbehörden (die Latte hängt hoch, glauben Sie’s mir).*Rätsel: Welche Funktion hatte ich früher? Leitende ObergerichtsschreiberinUmfrage: Susanna Grüninger