Blackbox für die Behörden


Mit einer Verzögerung von einem halben Jahr wird das gemeinsame Sorgerecht für Kinder eingeführt. Es bedeutet für die stark belasteten Kindes- und Erwachsenschutzbehörden im Kanton Bern zusätzliche Arbeit.

Am 1. Juli ist es so weit, das gemeinsame Sorgerecht tritt in Kraft. Eigentlich hätte es bereits auf Anfang Jahr eingeführt werden sollen, die Kantone haben sich aber eine längere Frist ausbedungen. Künftig sollen auch geschiedene und unverheiratete Paare das Sorgerecht für ihre Kinder teilen und wichtige Entscheide für ihren Nachwuchs gemeinsam treffen. Speziell ist, dass das neue Recht rückwirkend auf fünf Jahre eingeführt wird. Auf die Behörden kommt deshalb viel Arbeit zu: Alleine im Jahr 2010 wurde laut Bundesamt für Statistik im Kanton Bern in 998 Fällen das Sorgerecht der Mutter zugesprochen. Tausende von Vätern könnten nun ihren Anspruch auf das Sorgerecht stellen. «Wir können nicht abschätzen, wie viele Gesuche eingehen werden. Die zusätzliche Arbeitsbelastung für uns gleicht einer Blackbox», sagt Patrick Fassbind, Präsident der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern. Bis jetzt seien noch keine Gesuche eingegangen. «Ich hätte erwartet, dass die Väter ungeduldiger sind und bereits vor Inkrafttreten des neuen Sorgerechts Gesuche einreichen würden», sagt Fassbind.

Auch Hansjürg Sieber, Präsident des Vereins männer.bern, kann nicht abschätzen, wie viele Väter nun von ihrem Recht Gebrauch machen werden. «Die Männer, die immer davon reden, werden nun den Tatbeweis erbringen», sagt er. Vor allem die schwierigen Fälle erwartet die auf Familienrecht spezialisierte Berner Anwältin Susanne Meier. Die friedlichen Konstellationen würden kaum eine Rolle spielen. «Wenn jemandem das Sorgerecht ausgesprochen wichtig ist, ist die Situation oft sehr konflikthaft», sagt sie. So rechnet auch sie mit zusätzlichen Anfragen, da nur während der Dauer eines Jahres alte Fälle neu beurteilt werden können. Im Februar habe sie zum Beispiel eine Mutter vor Gericht vertreten, der gegen den Widerstand des Vaters das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden sei. Es sei gut möglich, dass diese Frau nun wieder komme, weil der Vater das gemeinsame Sorgerecht beantrage. Ist es nicht widersinnig, einen Entscheid, der vor einem halben Jahr gefällt wurde, für viel Geld wieder rückgängig zu machen? Das Gericht habe im Februar nicht anders entscheiden können, weil bisher für das gemeinsame Sorgerecht die Zustimmung von beiden Elternteilen nötig war, sagt Meier. Ob man in diesem Fall nun anders entscheiden würde, sei eine interessante Frage.

Mehr Streit und Druckmittel

Mit der Einführung des automatischen gemeinsamen Sorgerechts für unverheiratete Paare könnte zumindest ein Teil der bisherigen Arbeit wegfallen. Die Unterhaltsverträge oder Vereinbarungen über die gemeinsame Sorge, die von den Sozialdiensten für nicht miteinander verheiratete Eltern mit neugeborenen Kindern fast immer auszuarbeiten waren, fallen grossmehrheitlich weg. Während Anwältin Meier dies richtig findet, weil man nicht wissen könne, wie sich die Verhältnisse im Trennungszeitpunkt präsentierten, warnt Fassbind. Er empfiehlt, in gewissen Fällen weiterhin Unterhaltsverträge abzuschliessen: «Wenn sich die Paare in ein paar Jahren trennen, wird es in Bezug auf den Kindes­unterhalt viel Unsicherheit geben, weil nichts geregelt ist.» Nebst den «rückwirkenden» Fällen werden sich die aus dem neuen Recht resultierenden, sehr zeitintensiven, behördlichen Zusatzaufgaben erst nach und nach auswirken. Denn bei der Geburt eines Kindes seien die Paare noch zum allergrössten Teil zusammen, rund die Hälfte der elterlichen Beziehungen gingen erst im Verlauf der Zeit auseinander.

Fassbind befürchtet, dass mit dem gemeinsamen Sorgerecht nicht weniger, sondern eher mehr gestritten wird. Nicht mehr um das Sorgerecht, aber um die Obhut, die Betreuung, das Besuchsrecht, den Aufenthaltsort des Kindes und über Entscheide, die für das Kind gemeinsam getroffen werden müssen. Sieber sagt, wo viel Frust sei, werde auch Druck ausgeübt. Für den Wohnortswechsel eines Elternteil etwa braucht es neu die Zustimmung des ­anderen.

«Der Fehler liegt beim Kanton»

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) wurden auf Anfang 2013 hin geschaffen, weil der Kanton Bern sein Vormundschaftswesen professionalisieren musste. Die Behörden kamen mit dem grossen Arbeitsaufwand rasch an den Anschlag und musste auch Kritik einstecken. «Die Kesb des Kantons Bern hatten sich auf das wichtige Projekt «Gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall» intensiv vorbereitet», sagt Fassbind. Auch Sieber ist zuversichtlich, dass die Kesb der neuen Aufgabe gewachsen sind. Anwältin Meier erinnert daran, dass es die Kesb waren, die eine raschere Einführung des gemeinsamen Sorgerechts gestoppt hatten. «Der Fehler liegt beim Kanton, die Kesb hatten bei deren Einführung viel zu wenig Zeit für den Aufbau», sagt sie. Es sei klar, dass es dabei nicht optimal habe laufen können.

Auch auf die Sozialdienste wird mehr Arbeit zukommen, in den streitbaren Fällen müssen sie Abklärungen treffen. Vielerorts im Kanton Bern ist man enttäuscht, weil die Sozialdienste mit der Einführung der Kesb nicht entlastet wurden, sondern zum Teil mehr Aufwand haben als vorher. Deshalb wandte sich der Verein Seeland Biel/Bienne kürzlich an den Regierungsrat. Die Initiative ging vom Lysser Gemeindepräsidenten Andreas Hegg aus. Der Regierungsrat habe bereits reagiert und angekündigt, die Abläufe zu beschleunigen und die Behörde effizienter zu machen, sagt er. Fassbind spricht von einem Missverständnis bei den Gemeinden: Es sei von Anfang klar gewesen, dass eine Professionalisierung des Vormundschafts­wesens mehr Aufwand bedeute. Zudem werden die Gemeinden vom Kanton für jeden einzelnen Auftrag der Kesb entschädigt. Ein Teil des Mehraufwands bleibe aber bei den Gemeinden, sagt Hegg. (Der Bund)


Der Bund.ch


1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne (4 Bewertungen, Durchschnittlich: 3,75 von 5)
Loading...
"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Gesetz, KESB - Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Politik, Widerstand