Elsbeth Müller von der Unicef Schweiz sagt, Kinderrechte könnten besser durchgesetzt werden. So würden etwa bei Scheidungen nur 10 Prozent der Kinder angehört.
Heute tagt in Genf der UNO-Kinderrechtsausschuss und prüft, ob und wie die Schweiz ihren Verpflichtungen der UNO-Kinderrechtskonvention nachkommt. Im Fokus stehen Schutzmassnahmen für gefährdete Kinder sowie die Frage, wie man die Datenlage bei kinderrelevanten Themen verbessern kann. Schlussfolgerungen und Empfehlungen werden Ende Januar veröffentlicht.
Die Unicef setzt sich für die Rechte der Kinder weltweit ein, auch in der Schweiz. Geht es den Kindern in der Schweiz denn nicht gut?
Doch, den Kindern in der Schweiz geht es vergleichsweise gut, insbesondere materiell. Nichtsdestotrotz: Es gibt auch in der Schweiz benachteiligte, verletzliche Kinder. Und auch bei uns stellt sich die Frage, was uns das Wohlergehen unserer Kinder wert ist.
Trotzdem: Haben Kinder im Ausland, etwa Flüchtlingskinder aus Syrien, Hilfe nicht nötiger?
Doch, natürlich. Es fliesst deshalb auch ein sehr grosser Anteil unserer Gelder in Projekte im Ausland. Dennoch braucht es unseren Einsatz in der Schweiz. Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention unterzeichnet, und die Umsetzung der Konvention muss in allen unterzeichnenden Ländern beobachtet werden. Auch in der Schweiz gibt es schwierige Situationen für Kinder, es sind einfach andere Formen.
Wie schneidet die Schweiz im europäischen Vergleich ab?
Wir sind an Stelle acht bis zehn. Die Spitzenplätze belegen die skandinavischen Länder, die Niederlande und je nach Fragestellung auch Frankreich oder England. Ein grosses Manko in der Schweiz sind fehlende Daten. Wir können zum Beispiel nicht genau sagen, wie viele Kinder von Armut betroffen sind und wie sich diese auf ihren Alltag auswirkt. Und es gibt keine nationale Statistik über Fremdplatzierungen. Das hat damit zu tun, dass Rohdaten zum Teil zwar vorhanden sind, aber nicht analysiert und bewertet werden und folglich daraus keine politischen Massnahmen abgeleitet werden. Es hat aber auch mit dem Föderalismus und mit unterschiedlichen Datenerhebungssystemen zu tun. Wir würden uns mehr Kooperation unter den Gemeinden, den Kantonen und dem Bund wünschen.
In welchen weiteren Bereichen besteht noch Handlungsbedarf?
Kinder haben laut Kinderrechtskonvention ein Recht auf Anhörung in Rechtsverfahren, die sie betreffen. Das wird in der Schweiz nur mangelhaft umgesetzt. In Scheidungsverfahren etwa werden nur 10 Prozent der betroffenen Kinder angehört. Die gleiche Situation stellen wir zum Beispiel im Bereich der Gesundheit oder bei der Stiefkind-Adoption fest. Es geht nicht darum, dass die Entscheide zwingend anders herauskommen müssen. Es wäre aber sehr wichtig, die kindlichen Bedürfnisse anzuhören und zu berücksichtigen. Diese sind ja nicht immer deckungsgleich mit den Interessen ihrer Sorgeberechtigten. Auch werden Kinder in der Schweiz nur wenig in gesellschaftliche Entscheidungen miteinbezogen.
Können Sie ein konkretes Beispiel schildern?
Ein Beispiel ist der Schulweg. In der Schweiz ist es für ein Kind relativ sicher, alleine zur Schule zu gehen. Es zeigt sich aber, dass Kinder den Schulweg häufig anders wahrnehmen als von den Verkehrsplanern vorgesehen. Es würde sich lohnen, wenn Planer gerade mit kleinen Kindern den geplanten Schulweg abschreiten und von ihnen erfahren, was für sie die Herausforderungen sind und wovor sie Angst haben.
Wieso ist das wichtig?
Ein sicherer und auch vom Kind als sicher empfundener Schulweg wirkt sich zum Beispiel auf die Autonomieentwicklung des Kindes aus. Es kann etwas selbstständig und angstfrei bewältigen. Weiter fördert ein Schulweg, der auch für das Kind wichtige Eckpunkte hat – etwa der Ort, wo es jeweils die grossen Schneckenhäuser findet –, die Identifikation mit dem Raum, in dem es lebt. Das trägt zur Integration bei.
Wie sieht es generell mit dem Schutz der Kinder aus? Gerade nach dem Tötungsdelikt in Flaach wurde Kritik an den Behörden laut.
Die Schweiz hat ein sehr gutes soziales Sicherheitsnetz, und sie tut viel, um dieses Netz zu stärken. Auch die viel diskutierte Reorganisation der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ist letztendlich zum Vorteil der Kinder. Der Familie muss grösstmögliche Autonomie zugestanden werden. Wenn Eltern aber ihre Sorgepflicht nicht mehr wahrnehmen können, muss der Staat eingreifen können. Das Kind ist ein eigenes Rechtssubjekt, es ist nicht «Eigentum» seiner Eltern. Und es ist die Pflicht des Staates, seine Rechte zu schützen. (Tages-Anzeiger)