Hilferuf eines Mädchens: Eine Flucht und ihre Folgen

In Weesen hinterlässt eine 14-Jährige einen Abschiedsbrief und haut ab. Mit ihrer Aktion löst sie einen Grosseinsatz der Polizei aus – und brachte vieles ins Rollen.

«Vermisst wird Sabrina Müller*, 14 Jahre alt, Wohnort in Amden/Weesen. Sie trägt wahrscheinlich einen pinken Rucksack, weisse Turnschuhe und eine grüne Jacke. Seit gestern um 22 Uhr ist sie verschwunden. Bitte teilen.» Hunderte klicken den Hilferuf, der am Dienstag, 7. März, auf Facebook aufgeschaltet wird an – und teilen ihn in verschiedenen Gruppen.

Beunruhigende Entdeckung

Am gleichen Tag erfährt die «Südostschweiz» von einer grossen Polizeiaktion in Weesen: Polizisten mit Spürhunden und zwei Helikoptern suchen entlang dem Walensee jemanden. Kapo-Mediensprecher Hanspeter Krüsi bestätigt, dass es sich um eine Personensuche handelt. Mehr will er nicht sagen. Die «Südostschweiz am Wochenende» trifft noch in der gleichen Woche die Mutter der Vermissten, Karin*. Sie erzählt auch das, was im Facebook-Post nicht steht.

«Sabrina ging wie gewohnt schlafen.

Als ich sie am Tag darauf wecken

wollte, war sie verschwunden.»

«Sabrina ging am Montagabend wie gewohnt schlafen. Als ich sie am Tag darauf wecken wollte, war sie verschwunden», so die Mutter. Bei einer Suche rund ums Haus macht sie eine beunruhigende Entdeckung: «Vor der Haustür der Nachbarn, wo eine Freundin von Sabrina wohnt, fand ich einen Brief, auf dem ich ihre Handschrift erkannte.» Sabrina schreibt darin ihren Freundinnen, wie gerne sie sie habe. Und endet damit, dass sie «ja vielleicht von einem Stein getroffen werde». Vom Inhalt aufgeschreckt, sucht die Mutter Sabrina im Betlis am Walensee, wo oft Steine von den Felsen abbröckeln und auf die Strasse donnern. Als sie Sabrina da nicht findet, wendet sie sich an die Polizei.

Eine Scheidung

«Es ist keine einfache Zeit für Sabrina», sagt die Mutter später. Die 14-Jährige leidet unter der unschönen Scheidung ihrer Eltern. Das führte so weit, dass ein Beistand der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingesetzt wurde. Aber eine Erziehung alle zwei Wochen über ein Wochenende beim Vater sei nicht zu vergleichen mit der täglichen Erziehungsarbeit einer alleinerziehenden Mutter. «Wenn die Gegenseite Erziehungsmassnahmen immer wieder torpediert, ist es für Kinder zusätzlich schwierig», sagt Mutter Karin.

«Jugendliche beruhigen sich, wenn

sie Halt, Struktur 
und Sicherheit erfahren.»

Suzanne Erb, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen (KJPD)

Da sei es nicht verwunderlich, dass sie für die Tochter «die Böse» sei, weil sie ihr Einschränkungen macht, beispielsweise beim Handy-Konsum. «Meine Tochter und ich hatten einen Streit deswegen. Am Montagabend eskalierte dieser erneut.» Das sei möglicherweise einer der Gründe gewesen, weshalb Sabrina abhaute.

Eine eingespielte Maschinerie

Als die Polizei vom Verschwinden erfährt, läuft eine eingespielte Maschinerie an: Die Polizei befragt Sabrinas Freundinnen in der Schule und Lehrpersonen, aber auch ihren Vater. Spezialisten werden für die Suche beigezogen. Sabrina wird im schweizerischen Fahndungsregister ausgeschrieben. Mutter Karin telefoniert stundenlang mit Freunden, Nachbarn und Bekannten.

«Wenn sich jemand umbringen will,

nimmt er dazu nicht seinen

Rucksack und seine Zahnbürste

mit.»

Aufgrund des Abschiedsbriefs ist nicht auszuschliessen, dass Sabrina sich etwas angetan haben könnte. «Das habe ich nie geglaubt», sagt die Mutter. «Wenn sich jemand umbringen will, nimmt er dazu nicht seinen Rucksack und seine Zahnbürste mit. Und meist hinterlässt er auch keinen Abschiedsbrief.»

Die Schulen sind gewappnet

Der Vorfall bleibt an Sabrinas Schule nicht unbemerkt: «Die Schulleitung wurde noch am selben Morgen informiert und hat die weiteren Schritte koordiniert», sagt Rainer Elster, Schulleiter der Oberstufenschule Weesen-Amden (OSWA). Ein solches Ereignis verlange ein äusserst sorgfältiges Vorgehen: «Der Datenschutz und das Wohl der unmittelbar Betroffenen haben dabei oberste Priorität.» Die Schule habe für solche Vorkommnisse ein Kommunikations- und Informationskonzept. «Trotzdem muss jeder Fall individuell beurteilt werden.»

«Wir klären den Hilfsbedarf ab und schauen, welche Unterstützung bereits vorhanden ist.»
Walter Grob, Präsident Kesb Linth

Sabrinas Mitschüler seien von der Schule informiert worden. Die Reaktionen seien unterschiedlich ausgefallen – je nachdem, wie eng die Mitschüler mit Sabrina befreundet sind. Das merkt auch Mutter Karin: «Sabrina und ihre Schwester wurden in der Schule oft darauf angesprochen. Das macht die Situation nicht einfacher.»

Keine einfache Rückkehr

Rund 14 Stunden, nachdem Karin Müller das Fehlen ihrer Tochter bemerkte, taucht sie wieder auf. Die Polizei findet sie aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung in einem Bus. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Vater. Was sie in der Zwischenzeit getan hat, bleibt unklar. «Sabrina redet nicht gerne über den Vorfall», sagt die Mutter. Und fügt an: «Ihr ist nicht bewusst, was sie mit ihrer Aktion alles ausgelöst hat.»

«Meiner Tochter ist nicht bewusst,

was sie mit ihrer Aktion alles

ausgelöst hat.»

Denn mit der Meldung, dass Sabrina wohlbehalten zurück ist, war die Geschichte längst noch nicht abgeschlossen: «Es fanden Gespräche auf allen Ebenen statt: mit den Eltern, Schülern, Schulräten, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitern und der Polizei», sagt Schulleiter Elster. Auch ausserhalb der Schule zieht der Vorfall weitere Konsequenzen nach sich. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wird hinzugezogen, da die Kinder seit der Trennung unter den scheinbar unüberbrückbaren Spannungen zwischen den beiden Elternteilen leiden.

Die Botschaft der Mutter

In all der Aufregung darf laut der Mutter eines nicht vergessen gehen: «Das Wohl des Kindes muss immer im Vordergrund stehen: Egal, was man für eine Vorgeschichte hat.» Mit ihrer Offenheit der Presse gegenüber will sie eine Botschaft vermitteln: «Es ist mir ein grosses Anliegen, dass andere Jugendliche merken, was sie mit einer solchen Aktion alles auslösen können», sagt sie.

«Egal, was vorgefallen ist, auch

wenn ihr geschieden seid: Ihr bleibt

die Eltern eurer Kinder

An Eltern gerichtet: «Egal, was zwischen euch und eurem Partner vorgefallen ist, auch wenn ihr geschieden seid: Ihr bleibt die Eltern eurer Kinder. Es ist eure wichtigste Aufgabe, sie zu erziehen und ihr Wohl in den Vordergrund zu stellen.»

*Namen der Redaktion bekannt

(Von Daniel Graf)


Südostschweiz.ch


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, Gesetz, KESB - Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Natur, Politik, Staat