Aufschrei einer Mutter: Sie will ihren 12-jährigen Sohn zurück und macht deshalb die Kosten eines Schweizer Sozialwahnsinns publik.
Tatsiana Zahner (40) sieht ihren Sohn vier Stunden pro Woche. Das sind die Besuchszeiten der geschlossenen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Hier sitzen verurteilte Straftäter. Der 12-Jährige aber hat nichts verbrochen, er hat das Bildungssystem überfordert und wurde ein Fall für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb).
In einem Bericht schreibt sie über den Jungen, er sei in der Klasse jeden Tag weggelaufen. Gegenüber anderen Kindern und Erwachsenen stellt sie «unkontrollierte, impulsive und bedrohliche Ausbrüche» fest. Die Mutter schüttelt den Kopf. Sie erzählt vom letzten Besuch in der Psychiatrie. Er habe gefragt: «Mami, nimmst du mich nach Hause?» Doch darüber entscheidet nicht sie, sondern die Kesb. Diese bestimmt auch, mit welchen Medikamenten das Kind ruhiggestellt wird. Als Protest wendet sich Zahner nun an die Öffentlichkeit und legt die Kosten der Behandlungen offen.
Ein Grund für die Verlegung in die Jugendforensik war das Geld. Der Monatstarif für den Jugendlichen beträgt hier 43’000 Franken. Man könnte meinen, das sei viel Geld. Doch die Behandlung war in der Vergangenheit noch teurer. Das erklärt sich so: Zusätzlich zu den Gebühren der Psychiatrie wurden bei der letzten Institution Sicherheitskosten fällig.
Die von der Kesb eingesetzte Beiständin hatte den Buben in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich untergebracht. Diese sah die Sicherheit der Kinderstation gefährdet und bestellte bei einer Sicherheitsfirma eine 1:1-Betreuung. Rund um die Uhr machte ein Security-Mann nichts anderes, als zu schauen, dass der 12-Jährige niemandem etwas zuleide tut. Das kostete 52 Franken pro Stunde, 1328 Franken pro Tag, 41’200 Franken pro Monat (siehe Ausriss). Die Beiständin hat die Rechnung der Gemeinde Wettswil am Albis ZH geschickt, wo Kind und Mutter angemeldet sind. Man könnte meinen, das sei nun viel Geld. Doch es kommt noch teurer.
Für den nächsten Monat schickte die von der Kesb beauftragte Sozialarbeiterin der Gemeinde eine neue Rechnung. Es sei vergessen gegangen, dass für die 24-Stunden-Betreuung drei Schichten nötig seien. Pro Tag kommen drei Sicherheitsleute in drei Autos vorbei. Folglich wurde die Wegpauschale von 80 Franken nicht nur einmal, sondern dreimal täglich fällig. Das machte 7200 Franken pro Monat.
So kletterte der Betrag auf 50’000 Franken für einen Monat. Die Gemeinde teilte der Beiständin mit, sie akzeptiere die Kosten nicht. Kurz darauf wurde das Kind von Zürich nach Basel verlegt. Da hier Straftäter untergebracht sind, schaut ein hausinterner Sicherheitsdienst zum Rechten. Für die Psychiatriekosten ist die Krankenkasse zuständig. Die Gemeindevertreter können aufatmen.
Ein untherapierbares Kind
Der 12-Jährige wird lange in der Klinik bleiben. In ihrem aktuellen Bericht schreiben die Ärzte: «Während zu Beginn noch ein Lerneffekt und ein Interesse an Therapie sichtbar gewesen waren, gleitet er aus dem therapeutischen Setting davon und weigert sich, über persönliche Themen zu sprechen.» Er sei nicht nur therapie-, sondern auch medikamentenresistent geworden. Dennoch werden ihm täglich Psychopharmaka verabreicht.
Der Junge sprenge mit seinem Verhalten den Rahmen der meisten Einrichtungen und überfordere das System, schreiben die Ärzte. Sie diagnostizieren verschiedene Störungen: eine psychische Störung, eine Störung des Sozialverhaltens und eine schulische Entwicklungsstörung. Hinzu kämen eine Traumatisierung durch Gewalterfahrung und multiple Beziehungsabbrüche. Die Beiständin hat Dutzende Institutionen angefragt, ob sie das Kind aufnähmen. Alle lehnten ab oder verwiesen auf eine Warteliste.
Die Geschichte des 12-Jährigen ist eine Abfolge von Sondersetting zu Sondersetting. Als Kleinkind kam er von Weissrussland mit der Mutter in die Schweiz. Der leibliche Vater ist unbekannt. Im russischen Kindergarten habe sich der Junge problemlos verhalten, sagt sie. Im Schweizer Kindergarten hingegen hatte er Mühe, weil er kaum Deutsch sprach. Danach besuchte er eine Sonderschule, eine Klinik und ein Internat. Die Kesb setzte die Beiständin vor anderthalb Jahren ein, nachdem es zu Hause zu einem Vorfall gekommen war. Der Partner der Mutter versuchte, das Kind mit seinem eigenen Sondersetting auf die richtige Bahn zu bringen. Er schlug es.
Tatsiana Zahner sagt: «Mein Kind ist eigentlich ganz normal, einfach sehr lebendig. Wir sind halt Russen.» Erst durch die gescheiterten Sondersettings sei die Situation eskaliert. Sie kämpft dafür, ihre Rechte von der Kesb zurückzuerhalten. Die verfügten Massnahmen seien nicht nur schlecht für sie und ihr Kind, sondern auch für die Gesellschaft. Sie sagt: «Mein Sohn ist teurer als Carlos.» 2013 sorgte der damals 17-Jährige für einen Aufschrei, als publik wurde, dass sein Sondersetting 29’000 Franken pro Monat kostete.
Die Kesb sei ein Fortschritt
Die für Zahners Sohn zuständige Kesb-Präsidentin Alexandra Zürcher äussert sich grundsätzlich: «In Extremfällen, die jedoch im Promillebereich liegen, können Kosten von mehreren 10’000 Franken pro Monat anfallen.» Solche Fälle würden eine absolute Ausnahme darstellen. Im Kanton Zürich handelt es sich gemäss dem Amt für Jugend und Berufsberatung um bis zu drei Fälle pro Jahr. Amtsleiter André Woodtli sagt: «Darauf ist keine Organisation im Kanton Zürich mit ihrem Regelbetrieb vorbereitet.»
Die Einführung der Kesb habe für derartige Fälle nur Vorteile. Sie würden schneller und mit der nötigen Fachkompetenz abgewickelt, sagt er. Und er erklärt die Rolle der Geldgeber: «Eine Gemeinde hat rechtlich keine Möglichkeit, die Übernahme der Kosten abzulehnen. Wenn die Kesb Ausgaben für nötig hält und anordnet, müssen diese bezahlt werden. Es gibt keine finanzielle Grenze, sondern es kommt darauf an, was fachlich notwendig ist.» Hanspeter Eichenberger, Gemeindepräsident von Wettswil am Albis, sagt: «Es ist wie beim Bingo-Spielen. Einmal trifft es diese Gemeinde. Einmal eine andere.»
Kesb-Kritiker warnen seit Jahren vor explodierenden Kosten. Der Bundesrat nahm dazu kürzlich in einem Bericht Stellung. Darin schrieb er, es stimme nicht, dass die von der Kesb verfügten Massnahmen teurer seien als jene der früheren Vormundschaftsbehörden. Als Beleg führt er die abnehmende Anzahl der verfügten Massnahmen an. Er erwähnte nicht, dass es sich zwar um weniger, aber um teurere Massnahmen handeln könnte. Das ist nicht überprüfbar. Es existiert keine schweizweite Statistik. Deshalb steht nur fest: Man weiss nicht, wie sich die Kosten entwickelt haben. Kesb-Kritiker sagen, die professionalisierte Behörde wähle immer die professionellste Massnahme, also die teuerste. Sie fordern, dass die Gemeinden darüber bestimmen sollen.
Tatsiana Zahner hat die selbstständige Konfliktmanagerin Sefika Garibovic eingeschaltet. Diese hat der Beiständin bisher erfolglos angeboten, den Fall zu übernehmen. Das Sondersetting Garibovic würde «einen Bruchteil» kosten. In einem Jahr hätte sie den Jungen schultauglich gemacht, glaubt sie.
Zum Sondersetting der Kesb sagt sie: «So produziert man schwer vermittelbare Arbeitslose und Kriminelle.» Das Kind könne sogar «schlimmer als Carlos» werden. Wenn es weiterhin betäubt werde, bleibe es nicht nur eine Überforderung für das Bildungssystem, sondern werde tatsächlich zum Verbrecher.