Justiz und «Kindeswohl»

Um die Kindsvertretung in juristischen Familienkonflikten kümmern sich inzwischen ganze Industriezweige.

Unsere Rechtskultur treibt mitunter seltsame Blüten: Galt vor 30 Jahren noch die Devise, Kinder nach Möglichkeit aus Scheidungsstreitigkeiten herauszuhalten, werden sie heute in den Konflikt integriert. Da sich rund die Hälfte aller Ehepaare und ein Drittel aller Eltern scheiden lassen, sind ebenso viele Kinder – Zehntausende pro Jahr – von Scheidungsstreitigkeiten betroffen. Diesen Kindern steht heute eine ganze Armada von Beiständen und Vertretern zur Seite – weil das Gesetz dies so verlangt. Spätestens mit der Inkraftsetzung der eidgenössischen Zivilprozessordnung 2011 erhielten Eheschutz- und Scheidungsrichter in der ganzen Schweiz den verbindlichen Auftrag, «wenn nötig» die Vertretung des Kindes anzuordnen und als Beistand eine in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahrene Person zu bezeichnen.

Nötig ist eine Kindsvertretung gemäss Gesetz immer dann, wenn «die Eltern bezüglich der Zuteilung der elterlichen Obhut oder Sorge oder bezüglich wichtiger Fragen des persönlichen Verkehrs unterschiedliche Anträge stellen» – das heisst: sehr oft. Auch das Kind selber kann eine Vertretung im Scheidungsprozess der Eltern verlangen, sobald es «urteilsfähig» ist, also etwa im Primarschulalter. Der Scheidungsrichter muss sein Scheidungsurteil Kindern ab 14 Jahren formell mitteilen, soweit es Kinderbelange betrifft. Entweder können die Richter die Kindesschutzbehörde beauftragen, dem Kind einen Beistand zu bestellen, oder sie können für das Kind einen Prozessvertreter ernennen. Solche Prozessvertreter dürfen im Scheidungsprozess mitreden und sogar Rechtsmittel einlegen.

Um die Kindsvertretung in Familienkonflikten kümmern sich inzwischen ganze Industriezweige. In der Schweiz haben bereits 213 Anwälte das Kindsrecht zu ihrem bevorzugten Arbeitsgebiet erklärt. Private Institutionen bieten den Kindesschutzbehörden Betreuungspersonen an, welche Kinder zum Beispiel beim Besuch zum getrennt lebenden Elternteil begleiten. Fachhochschulen führen gut besuchte Ausbildungsgänge für Kindsvertretungen, und der Verein «Kinderanwaltschaft» offeriert eine «altersgerechte Information und Beratung im Kontakt mit der Justiz».

Es gibt Beispiele, bei denen ein Kind im Ehekonflikt der Eltern von bis zu fünf verschiedenen Beratern unterstützt wird: Zuerst bestellte das erstinstanzliche Eheschutzgericht dem Kind einen Beistand der Kindesschutzbehörde, daraufhin doppelte das Obergericht mit der Ernennung eines zusätzlichen Beistandes für das Kind im Strafverfahren gegen einen Elternteil nach und mandatierte für das Kind auch gleich eine Anwältin als Kindsvertreterin im Eheschutzprozess. Weil das Besuchsrecht des Vaters nicht klappte, setzte die Kindesschutzbehörde einen privaten Besuchsbegleiter ein. Aussergerichtlich erhielt das Kind noch die Unterstützung einer Psychotherapeutin, und weil auch schulische Probleme entstanden, mischte noch der schulpsychologische Dienst bei der Konfliktlösung mit.

So weit, so gut. Nur: Welchen Idealen sind denn all die Kindsvertreter verpflichtet? Das Gesetz spricht vom «Kindeswohl», dem ein Vorrang zukomme. Leider handelt es sich beim Begriff des Kindeswohls um einen beliebigen Allgemeinbegriff, der raschen gesellschaftlichen Wandeln unterworfen ist.

In den vergangenen Jahren haben die Gerichte fast ausschliesslich Anwältinnen und Anwälte zu Prozessvertretern von Kindern ernannt. Diese juristisch geschulten Kindsvertreter, manche selber kinderlos, verbringen dann zum Beispiel einen Nachmittag mit ihrem kindlichen Mandanten auf dem Fussballplatz, um anschliessend dem Gericht in einem wortreichen Plädoyer zu schildern, dass das Kind im Ehestreit der Eltern am liebsten Fussball spielen würde. Ende des vergangenen Jahres hat das Bundesgericht dann aber entschieden, dass Kindsvertreter nicht die Wünsche des Kindes ergründen, sondern das «objektive Kindeswohl» erforschen sollten. Was das heisst, erklärte das Bundesgericht nicht. Seither streiten sich die Fachleute über die Aufgabe von Kindsvertretern. Diese verstehen sich teilweise als Familien-Gutachter und erläuterten den Familiengerichten, welche unheilvolle Rolle das «Familiensystem» auf ihre Mandanten ausübe.

Kindsvertretungen in Familienkonflikten sind nicht nur umstritten, sondern vor allem sehr teuer. Die Beschäftigung einzelner oder häufig mehrerer Fachpersonen kostet in der Regel – neben den ohnehin entstehenden Anwaltskosten – Zehntausende Franken und treibt Eltern, deren Budget durch eine Trennung oder Scheidung bereits arg strapaziert wird, nahezu in den Ruin. Der Boom der Kindsvertretungen geht auf Uno-Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 1989 zurück. Dieses Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, «dem Kind Gelegenheit zu geben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden».

Befragen Gerichte Kinder in Familienkonflikten, hören sie immer das Gleiche: Die Kinder wünschen sich, dass Mutter und Vater zusammenbleiben; sie wünschen sich eine intakte Familie. So einfach wäre das. Doch das Ideal der intakten Familie ist Vergangenheit. Neue Werte fehlen.

(Von Ueli Vogel-Etienne, Rechtsanwalt und Mediator in Zürich)


NZZ.ch


1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne (1 Bewertungen, Durchschnittlich: 3,00 von 5)
Loading...
"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, Einkommensteuer, Entfremdung, Finanzen, Gesetz, KESB - Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Politik, Staat, Widerstand