Kreuzlingen – Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) ist in den vergangenen Wochen wieder in die Diskussion geraten. Das Thurgauer Obergericht sieht Optimierungsbedarf bei Personalbestand sowie Arbeitsabläufen und Psychologin Julia Onken strebt gar eine Volksinitiative gegen die Organisation an.
Kaum ein gutes Haar lässt die bekannte Schweizer Psychotherapeutin und Autorin Julia Onken aus Romanshorn an der KESB: «Ein aufgeblasener administrativer Apparat», der schwere Eingriffe in persönliche Rechte verursache. «Das ist der Schweiz nicht würdig.» Nachdem sie im Herbst 2014 erstmals öffentlich Position gegen die KESB bezogen hatte, brach eine Flut an Zustimmung von Betroffenen über sie herein. Hunderte Menschen berichteten über ihre negativen Erfahrungen mit der Organisation, die Anfang 2013 schweizweit die Vormundschaftsbehörden ablöste.
«Betroffene schilderten mir teils haarsträubende Geschichten, wie willkürlich mit ihnen umgegangen wird.» Onken spricht von «unmenschlichem Verhalten», macht aber weniger den KESB-Mitarbeitern, sondern vielmehr den vom Gesetzgeber gewollten Strukturen einen Vorwurf. Da die Kosten möglichst gering sein sollen, wie es das Thurgauer Obergericht als vorgesetzte Behörde in seinem Rechenschaftsbericht für 2014 indirekt zum Ausdruck bringt, sind die fünf Bezirksbehörden im Kanton chronisch unterbesetzt, da die Fälle zunehmen. Aufgrund politischer Vorgaben wurde die Stellenzahl für den gesamten Kanton von Anfang an auf 39,6 Stellen begrenzt, das Obergericht fordert 45 Vollzeitstellen.
Chronisch unterbesetzt
Bei der KESB Kreuzlingen gibt es fünf hauptamtliche Behördenmitglieder, denen sechs Mitarbeiter im Fachsekretariat zuarbeiten. 2014 wurden im Bezirk Kreuzlingen 1262 Verfahren eröffnet (2013: 1002) und 1125 (614) erledigt. Am Ende waren noch 487 offen (388). «Ungefähr die Hälfte der Fälle bei uns betreffen das Kindswohl», berichtet Präsident Christian Jordi: «Kinder haben sonst ja keine Stimme.» Der Kindsschutz sei insgesamt aufwändiger, da viele Stellen involviert seien.
Schon jetzt müssen die Behörden auf befristete Kräfte zurückgreifen, um ihrer Arbeit nachzukommen. Im Bezirk Kreuzlingen seien es gemäss Jordi 120 Stellenprozente zusätzlich. Laut Obergericht seien für 2015 in allen fünf Thurgauer Behörden befristete Stellen von 800 Prozent budgetiert.
Für Julia Onken ein Beweis dafür, dass die KESB zwar gut gemeint war, aber schlecht umgesetzt wurde. «Mit solch einem Personalbestand kann man doch nicht vernünftig und human arbeiten», kritisiert sie. Menschen würden zu Fällen degradiert, die möglichst schnell abzuarbeiten seien. Die Zeit, eine heikle Familiensituation oder ein persönliches Schicksal umfassend von allen Seiten zu beleuchten, komme dabei vielfach zu kurz.
KESB muss tätig werden
Dies bestreitet der Kreuzlinger KESB-Präsident für seine Behörde. «Wir nehmen uns sehr viel Zeit für die jeweiligen Abklärungen und arbeiten nicht selbstherrlich.» Dafür seien er und seine Mitarbeiter aber auch auf die Einsichtsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten angewiesen. «Für uns steht das Wohl und der Schutz des betroffenen Kindes oder Erwachsenen im Vordergrund, dem sind wir verpflichtet», so Jordi weiter. Er räumt jedoch ein, dass Denunziantentum durchaus möglich sei, da die KESB weniger von sich aus, sondern überwiegend auf Anruf tätig werde. «Wir sind verpflichtet, jedem Hinweis nachzugehen.»
So auch im Fall eines heute 17-jährigen Mädchens aus Lengwil, das im Frühjahr 2015 vier Wochen lang auf eigenen und auf Wunsch der Eltern in Absprache mit der KESB in einer Pflegefamilie in Kreuzlingen untergebracht war. Ein ehemaliger Nachbar der Familie aus Münchwilen gab der KESB einen Hinweis. Nach einem Streit mit ihren Eltern hatte sich das Mädchen ihrem Bekannten anvertraut, bei dem sie ein habes Jahr lang gelebt hatte. Die Eltern wurden von der zuständigen KESB in Kreuzlingen vorgeladen, konnten den kurzfristig angesetzten Termin aber aus beruflichen Gründen nicht wahrnehmen.
Bei einem erneuten Termin waren dann Mutter und Tochter anwesend (Sitzungsprotokoll liegt d. Red. vor). Nach eigener Aussage war die Mutter beim Gespräch mit einem Behördenmitglied der KESB «auf 180», da die Behörde im Vorfeld nicht auf Terminwünsche und Begründungen der Familie eingegangen sei. «So aus dem Ärger heraus» sei dann von ihr der Wunsch geäussert worden, eine Auszeit von der pubertierenden Tochter zu bekommen. «Die Frau hatte keinerlei Einfühlungsvermögen und Empathie für unsere Familiensituation gezeigt, sondern nur nach Schema gehandelt», kritisiert die berufstätige Mutter die KESB-Mitarbeiterin. «Bei der Befragung wurde ich behandelt wie eine Asoziale.»
Kein Vorwurf im Protokoll
Davon steht allerdings im Protokoll, das von den Anwesenden unterschrieben wurde, nichts. Die betroffenen Personen können nämlich Korrekturen und Bemerkungen anbringen. Im Rahmen dieser Mitwirkungmöglichkeit bei der Protokollerstellung könne gemäss KESB-Präsident Jordi vorgebracht werden, dass man das Gefühl gehabt hat, nicht fair behandelt worden zu sein: «Es wird niemand gezwungen, ein Protokoll zu unterschreiben.»
Der Tochter tut das Ganze mittlerweile «schrecklich leid», nachdem sie ab dem 24. März dieses Jahres vier Wochen bei der Pflegefamilie untergebracht war. Doch jetzt ist die Familie «in den Mühlen der Behörde». Der Pflegevertrag ist zwar ausgelaufen, die KESB hatte aber am 16. April entschieden, eine Beistandschaft für die Tochter einzusetzen. Dagegen haben die Eltern Beschwerde beim Obergericht eingelegt. Der Entscheid wurde nach Angaben des Gerichts bereits gefällt und am 10. Juni versandt. Über den Inhalt des Schreibens habe die Familie nach eigenen Angaben noch keine Kenntnis. Offen ist zudem, welche Kosten auf die Familie insgesamt zukommen.
Im Fokus der Öffentlichkeit
Obwohl oder gerade weil die KESB noch nicht einmal drei Jahre arbeitet, steht sie unter ganz besonderer Beobachtung der Öffentlichkeit. Viele wünschen sich die Vormundschaftsbehörden zurück, die von den Gemeinden getragen wurden. So auch Julia Onken: «Es war früher zwar auch nicht alles astrein, die Behörde war aber in den Gemeinden verankert, es war eine grössere Nähe zur Bevölkerung da.»
Sie moniert an der aktuellen Organisationsform mangelndes Fingerspitzengefühl und fehlende Menschlichkeit im Umgang mit den Betroffenen, zu denen sie auch die Angehörigen zählt. «Wer einer Mutter ihre Kinder wegnimmt, weckt in ihr Urinstinkte», sagt die 73-Jährige mit Verweis auf das Familien-Drama vom Neujahrstag in Flaach (ZH) mit zweifacher Kindstötung und versuchtem Suizid der Mutter. «Das ist ein absoluter Skandal, der mich restlos mobilisiert hat», gerät die engagierte Familientherapeutin in Rage und sieht eine grosse Mitschuld an der Tragödie bei der zuständigen KESB. Flaach ist in seiner Konsequenz sicherlich ein Einzelfall und trauriger Höhepunkt in der noch jungen KESB-Geschichte, doch Onken kennt weitere Fälle, in denen ihrer Ansicht nach von der Behörde jedes menschliche Mitgefühl ausser Acht gelassen worden sei.
Zwar steht Betroffenen die Möglichkeit offen, KESB-Entscheiden zu widersprechen. Julia Onken sieht aber auch das kritisch: «Viele Menschen sind durch einen Entscheid oder aus anderen Gründen derart angeschlagen, die können sich einfach nicht wehren.» Manche hätten auch Angst, dadurch als renitent zu gelten und durch ihr «unkooperatives Verhalten» das Ganze nur noch schlimmer zu machen.
Das Volk soll entscheiden
All jenen will Onken eine Stimme geben und lanciert zusammen mit dem SVP-Nationalrat Pirmin Schwander (Schwyz) und der Bestseller-Autorin Zoë Jenny eine Volksinitiative. Ein Treffen dazu gibt es heute Freitag, 19. Juni, in Küssnacht (ZH). Dabei soll das weitere Vorgehen besprochen werden, schliesslich müssen mindestens 100000 Unterschriften gesammelt werden.
(von T. Martens)