Das Bundesgericht hat einem Vater in einem wegweisenden Urteil das Sorgerecht entzogen – wegen Dauerkonflikts mit der Mutter. Fachleute sagen, ob sie seiner Beschwerde Chancen einräumen.
Die Nachricht war eine Enttäuschung für Väter, die sich vom neuen, seit Juli 2014 geltenden Sorgerecht eine Trendwende erhofft hatten: Im August 2015 hat das Bundesgericht den Fall eines Zürcher Paares beurteilt, das sich seit rund fünf Jahren um das Sorgerecht für das heute sechsjährige Kind gestritten hatte.
Diese Eltern seien zur gemeinsamen Sorge nicht fähig, befand das höchste Schweizer Gericht, und stützte die Vorinstanzen, welche der Mutter das alleinige Sorgerecht erteilt hatten. Ursprünglich einigten sich die Eltern bei der Trennung, kurz nach der Geburt der Tochter, auf das gemeinsame Sorgerecht. Danach begannen sie sich aber wegen Sorgerechtsfragen wie Taufe und Auslandaufenthalte des Kindes zu streiten.
SP-Nationalrätin Margret Kiener-Nellen, die das gemeinsame Sorgerecht als Regelfall stets kritisch beurteilt hatte, reagierte in Medienberichten auf das Urteil des Bundesgerichts «hocherfreut». Nach langjähriger Erfahrung als Rechtsanwältin wisse sie, dass Dauerkonflikte für die Kinder eine unzumutbare seelische Belastung darstellten, sagte sie dem «St. Galler Tagblatt». Andere kritisierten den Gerichtsentscheid, darunter Markus Theunert, Präsident von Männer.ch: Das Gericht riskiere damit, den politischen Willen zu sabotieren, sagte er.
«Entfernung eines Elternteils ist keine Lösung»
Der betroffene Vater will das Urteil an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg weiterziehen, wie er Tagesanzeiger.ch/Newsnet auf Anfrage sagt. Noch bespricht er die Angelegenheit mit Familienrechtsspezialisten. Doch er ist entschlossen, den Kampf bis zur höchsten Instanz weiterzuführen. «Ich bin überzeugt, dass es nicht im Sinn des neuen gemeinsamen Sorgerechts ist, dass Nicht-Kooperation mit dem alleinigen Sorgerecht belohnt wird», sagt der italienischstämmige Zürcher, dessen Name Tagesanzeiger.ch/Newsnet bekannt ist.
Das sieht auch Oliver Hunziker so, Präsident von Gecobi, der Vereinigung für gemeinsame Elternschaft: «Mit der Einführung des gemeinsamen Sorgerechtes als Regelfall sollte verhindert werden, dass das Sorgerecht zum Streitobjekt wird. Dies war ja gerade der Systemfehler im alten Recht, da dort das Sorgerecht vom Willen eines Elternteils abhing.» Das Bundesgericht signalisiere nun in seinem ersten Entscheid nach der Einführung des neuen Gesetzes das genaue Gegenteil, sagt Hunziker: «Streit unter den Eltern wird wieder als Kriterium für eine Alleinsorgezuteilung an einen Elternteil gewertet.» Das Sorgerecht greife bei wirklich wichtigen Entscheidungen im Leben eines Kindes. Wenn sich Eltern in so wichtigen Fragen uneinig seien, müsse der Widerspruch geklärt werden, die blosse Entfernung eines Elternteils aus dem Recht dürfe nicht die Lösung sein.
Überrascht von der Auslegung des Bundesgerichts
Oliver Hunziker berät den vor Bundesgericht unterlegenen Vater bei seinem Ansinnen, den Fall weiterzuziehen. Davor müssen noch einige juristische Fragen geklärt werden, wie Hunziker sagt. Involviert ist auch Marcel Enzler, Präsident der Organisation Kisos (Kindesschutzorganisation Schweiz): «Das Urteil des Bundesgerichts signalisiert, dass Streit weiterhin belohnt wird, zumindest im Fall des Elternteils, der das Kind in seiner Obhut hat. Damit kehrt man zur alten Rechtspraxis zurück.» Das könne nicht im Interesse des Kindes sein. Enzler gibt einer Beschwerde am Menschenrechtsgerichtshof lediglich «moderate» Chancen. Doch: «Wer aufgibt, hat schon verloren.»
Auch Martin Widrig, Assistent und Doktorand an der Universität Freiburg, beurteilt die Chancen einer Beschwerde in Strassburg als «eher gering». Der Gerichtshof für Menschenrechte habe zwar mehrfach anerkannt, dass das Sorgerecht durch den Anspruch auf Achtung des Familienlebens in der Menschenrechtskonvention geschützt ist. «Er stellt aber zurzeit keine allzu hohen Anforderungen an Einschränkungen solcher grundrechtlich geschützter Ansprüche», sagt Widrig, der über die alternierende Obhut eine Dissertation verfasst: ein Betreuungsmodell, bei dem die Kinder mindestens ein Drittel ihrer Zeit bei Vater und Mutter verbringen.
Widrig war überrascht, dass das Bundesgericht im aktuellen Sorgerechtsurteil zum Schluss gekommen ist, dass bei einem Sorgerechtsentzug nach Trennung oder Scheidung weniger strenge Massstäbe anzuwenden seien, als wenn die Eltern zusammenleben. Konservative Kreise hätten dies während der Sorgerechtsrevision erfolglos gefordert, sagt Widrig. Der Wille von Bundesrat und Parlament sei klar zum Ausdruck gekommen, dass in allen Fällen von Sorgerechtsentzug dieselben Massstäbe angewendet werden sollen. Das entspreche auch dem Bestreben im neuen Sorge- und Unterhaltsrecht, Kinder lediger und verheirateter Eltern einander rechtlich gleichzustellen.
Mehr Spielraum für die Gerichte
Das Urteil gebe den Gerichten und Behörden einen grösseren Ermessensspielraum beim Sorgerechtsentzug, sagt Martin Widrig. «Dies bedeutet, dass die Erteilung des Sorgerechts mehr vom Willen der Entscheidungsträgerinnen und -träger unterer Instanzen abhängt und Betroffene aufgrund grösserer Ungewissheit eher zittern müssen.»
Wichtig sei aber auch: «Das Bundesgericht hat deutlich gemacht, dass das Sorgerecht in Fällen von Dauerkonflikt nicht entzogen werden muss. Es bleibt also legitim, dass eine andere Behörde in gleichgelagerten Fällen anders entscheidet.» Noch etwas Positives hebt Widrig hervor: «Das Bundesgericht hat sich auch zur Elternverständigung bekannt: Wird der Konflikt nur durch einen Elternteil genährt, was laut Schätzungen auf ein Drittel aller Sorgerechts-Streitfälle zutrifft, so hat das Gericht zu prüfen, ob es nicht angezeigt ist, das alleinige Sorgerecht dem ‹vernünftigen› Elternteil zu übertragen.» (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)