Wald: Bauer will Kuhglockenverbot bis vor Bundesgericht ziehen

Der Walder Gemeinderat hat einen Bauern mit einem nächtlichen Kuhglockenverbot belegt. Das Baurekursgericht hat es kürzlich bestätigt. Der unterlegene Bauer will nun erneut dagegen rekurrieren.

Denkt nicht daran, den Kühen die Glocken abzunehmen: Bauer Manuel Zwischenbrugger auf der Weide, um die der Streit entbrannt ist. (Bild: Seraina Boner)

In der beschaulichen Gemeinde Wald tobt seit vier Jahren ein heftiger Nachbarschaftsstreit. Stein des Anstosses sind laut bimmelnde Kuhglocken. Nachdem beim Walder Gemeinderat mehrmals Lärmklagen eingegangen waren, hatte dieser im vergangenen November ein «nächtliches Trageverbot von Kuhglocken» erlassen. Gegen diesen Entscheid hat der Bauer beim Baurekursgericht rekurriert. Das Gericht stützte allerdings den Entscheid des Gemeinderats und gewichtete das Recht auf Nachtruhe höher als das Interesse des Bauern an Rindern mit Kuhglocken (wir berichteten).

Der betroffene Bauer Manuel Zwischenbrugger will das Urteil nicht akzeptieren. Wie sein Rechtsvertreter Robert Hess ankündigt, wird er auch gegen diesen Entscheid rekurrieren und ihn ans Verwaltungsgericht weiterziehen. «Kuhglocken gehören zur ländlichen Gegend», sagt Hess. «Sie waren schon immer da.» Hess – selbst Landwirt – sieht den Bauernstand unter Druck. Durch die Urbanisierung ländlicher Gebiete seien die Bauern immer häufiger mit Lärmklagen konfrontiert. Wenn es sein müsse, würden sie den Fall bis vor Bundesgericht weiterziehen, sagt Hess.

«Recht auf Nachtruhe»

Die betroffenen Nachbarn fühlen sich vom Bauern schikaniert. «Dabei fordern wir einfach nur unser Recht auf ungestörte Nachtruhe ein.» Sie hätten zwar grundsätzlich nichts gegen Kuhglocken, «einfach nicht direkt vor unseren Schlafzimmern.» (Von Andreas Kurz).


Urteilskopf

101 II 248

41. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. Mai 1975 i.S. B. gegen Z.

Regeste

Nachbarrecht; Art. 684 ZGB.
Passivlegitimation einer Person, die nur Pächter des Grundstückes ist, von dem eine Immission ausgeht (E. 2).
Der Weidgang mit umgehängten Glocken zur Nachtzeit auf einer Wiese, die in der Wohnzone eines Dorfes liegt, ist eine übermässige, durch Lage und Beschaffenheit der Grundstücke oder nach Ortsgebrauch nicht gerechtfertigte Einwirkung (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 248

BGE 101 II 248 S. 248

A.– B. ist Eigentümer der Parzellen Nr. 218 und 219 in X. Als Wohnhaus und Sitz seines Kräuterversandgeschäftes dient ihm das auf der Parzelle Nr. 219 stehende Gebäude. Nordöstlich der beiden Grundstücke liegt die Parzelle Nr. 222 und westlich (jenseits der zum Bahnhof führenden Strasse) die Parzelle Nr. 199. Beide werden heute von Z. (unter anderem als Viehweide) landwirtschaftlich genutzt.

B.– Nachdem er wegen des Herdengeläutes schon gegen den Vater des heutigen Pächters der Nachbargrundstücke einen Immissionsprozess geführt hatte, erhob B. im August 1973 Klage gegen Z. Er verlangte die gerichtliche Festsetzung von Glockenzahl und -grösse sowie die Einschränkung des Weidganges mit Geläute auf bestimmte Zeiten des Jahres und ein Verbot nächtlichen Weidenlassens mit umgehängten Glocken.

C.– Das Bezirksgericht Mittelland und das Obergericht von Appenzell A.Rh. haben das erste Begehren weitgehend
BGE 101 II 248 S. 249
gutgeheissen, von einer Beschränkung des Weidganges mit Geläute auf bestimmte Zeiten des Jahres und des Tages dagegen abgesehen.

D.– Mit der vorliegenden Berufung ans Bundesgericht erneuert der Kläger die bei den kantonalen Instanzen gestellten Anträge.
Der Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. (Streitwert.)

2. Zur Frage der Passivlegitimation einer Person, die bloss Pächter des Grundstückes ist, von dem die Immissionen ausgehen, hat das Bundesgericht schon im Entscheid BGE 40 II 26 ff. dargelegt, dass Art. 684 ZGB eine Ausführungsbestimmung des in Art. 641 Abs. 2 ZGB festgehaltenen Grundsatzes sei, wonach der Eigentümer einer Sache das Recht hat, “jede ungerechtfertigte Einwirkung abzuwehren”. Dieses Recht – so fuhr das Bundesgericht fort – stehe dem Eigentümer gegenüber jedermann zu, und es sei deshalb – entgegenstehende Privatrechte (insbesondere Servitute) und höherstehende Interessen der Öffentlichkeit oder Privater (z.B. Notstand) vorbehalten – auch jedermann verpflichtet, sich solcher Einwirkungen zu enthalten. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Gesetzgeber bei der Umschreibung der unzulässigen Immissionen an den praktisch häufigsten Fall, nämlich an eine vom Eigentümer des Nachbargrundstückes verursachte Einwirkung, gedacht und demzufolge das Verbot übermässiger Immissionen in die Form einer Eigentumsbeschränkung gekleidet habe (BGE 40 II 29; vgl. auch LIVER, Der gesetzliche Schutz der Persönlichkeit in der Rechtsentwicklung, in ZBJV 103/1967, S. 80).
Die Vorinstanz hat die Passivlegitimation des Beklagten demnach zu Recht bejaht; dieser hat sich denn auch ohne weiteres auf den Prozess eingelassen.

3. Nach Art. 684 ZGB ist jedermann verpflichtet, bei der Ausübung seines Eigentums, wie namentlich beim Betrieb eines Gewerbes auf seinem Grundstück, sich aller übermässigen Einwirkung auf das Eigentum der Nachbarn zu enthalten (Abs. 1). Verboten sind insbesondere alle schädlichen und nach Lage und Beschaffenheit der Grundstücke oder nach Ortsgebrauch nicht gerechtfertigten Einwirkungen durch
BGE 101 II 248 S. 250
Rauch oder Russ, lästige Dünste, Lärm oder Erschütterung (Abs. 2).
Ob eine Immission übermässig im Sinne des Gesetzes ist, hat das Gericht durch eine Wertung und Abwägung der widerstreitenden Interessen der Parteien festzustellen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts steht dem kantonalen Richter dabei und in der Anordnung der gebotenen Massnahme ein weites Ermessen zu (vgl. BGE 79 II 54; BGE 88 II 14; MEIER-HAYOZ, N. 64 zu Art. 684 ZGB). Das Bundesgericht pflegt nur dort einzugreifen, wo die Grenze einer pflichtgemässen Würdigung überschritten ist, die kantonale Instanz somit von ihrem Ermessen einen offensichtlich unrichtigen Gebrauch gemacht hat (BGE 79 II 55). …

6. a) Mit dem dritten Hauptbegehren strebt der Kläger ein gänzliches Verbot des Weidenlassens mit Geläute zur Nachtzeit an. Bei der Prüfung einer Immission auf ihre Zulässigkeit ist für die Nacht allgemein ein strengerer Massstab anzulegen als für den Tag. Übermässig ist nachts in der Regel jede unnötige störende Immission. So haben denn auch namentlich die kantonalen und kommunalen Gesetzgeber in zahlreiche Erlasse für die Nacht einen qualifizierten Lärmschutz aufgenommen (vgl. dazu die Zitate bei HAFTER, Das Lärmproblem in der Praxis der Gerichts- und Verwaltungsbehörden, Diss. Zürich 1957, S. 146 Anm. 1).
Das Bundesgericht hat bereits im Jahre 1919 (BGE 45 II 402 ff.) festgehalten, dass eine ungestörte Nachtruhe namentlich in Anbetracht der Anforderungen, die das moderne Leben an die Nervenkräfte des Menschen stelle, ein erheblich schutzwürdiges Gut darstelle (S. 407). Diese Erkenntnis hat heute, mehr als 50 Jahre später, an Bedeutung noch zugenommen (vgl. den Bericht der Eidg. Expertenkommission an den Bundesrat, “Lärmbekämpfung in der Schweiz”, aus dem Jahre 1963, S. 58), hat doch unser Leben in den letzten Jahrzehnten eine enorme Technisierung und Motorisierung erfahren (SCHENKER-SPRÜNGLI, Entwicklung und Probleme der Lärmbekämpfung, in Jahrbuch für Umweltschutz 1973, S. 108). Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Nervenkräfte des heutigen Menschen oft bis aufs äusserste beansprucht werden. Dass das Bimmeln von Kuh- und Rinderglocken zur Nachtzeit, d.h. vor allem dann, wenn der

BGE 101 II 248 S. 251

Strassenlärm abgenommen hat, besonders lästig ist (vgl. ALEXANDRE, Bruit et sommeil, in Sozial- und Präventivmedizin, Heft Mai/Juni 1974, S. 155), bedarf unter diesen Umständen keiner weiteren Erörterung.
b) Dem klägerischen Interesse an einer möglichst ungestörten Nachtruhe steht das vom Beklagten beanspruchte Recht gegenüber, seinem Vieh auch beim Weiden zur Nachtzeit Glocken umzuhängen. Es fragt sich, ob die dabei entstehenden Schallimmissionen nach Lage und Beschaffenheit der Grundstücke oder nach Ortsgebrauch gerechtfertigt seien.
aa) Das Obergericht übernimmt die vom Bezirksgericht Mittelland im Urteil vom 4. Januar 1968 getroffene Feststellung, dass im Appenzellerland Herdengeläute bei Tag und Nacht gehört werde und auch in X. ortsüblich sei.
Sinn und Zweck der in Art. 684 ZGB ausdrücklich vorgesehenen Mitberücksichtigung des Ortsgebrauchs ist es, beim Werten und Abwägen der widerstreitenden Interessen den besonderen örtlichen Verhältnissen Rechnung tragen zu können. Der Ortsgebrauch im Sinne des Gesetzes ist somit naturgemäss an ein eng begrenztes Gebiet, an ein Quartier gebunden (MEIER-HAYOZ, N. 98 zu Art. 684 ZGB; HAFTER, a.a.O. S. 45/46). Es verstösst daher gegen den Sinn des Gesetzes, eine bestimmte Immission einfach für ein ganzes Kantonsgebiet oder eine Landesgegend als ortsüblich zu bezeichnen.
Gewiss handelt es sich beim Kanton Appenzell A.Rh. um ein vorwiegend ländliches Gebiet. Seine Siedlungsform, die für die Beurteilung des vorliegenden Falles von entscheidender Bedeutung ist, ist indessen keineswegs einheitlich. Charakteristisch ist zwar die Streusiedlung, doch darf nicht übersehen werden, dass daneben auch grössere Dörfer bestehen. Es ist nicht dasselbe, ob Kühe und Jungtiere, die Glocken tragen, in der Umgebung eines Einzelhofes oder aber – wie es nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts hier geschieht – in einem Dorf und dazu noch in dessen eigentlicher Wohnzone weiden. Wird das Bimmeln der Glocken dort für den Bewohner des in einer grösseren Entfernung stehenden nächsten Hofes kaum wahrnehmbar sein, so stellt es hier doch eine wesentliche Störung der Nachtruhe dar.
Wie sich aus dem Ausgeführten ergibt, verstösst die vorinstanzliche Auslegung des Rechtsbegriffes des Ortsgebrauchs gegen Bundesrecht und erscheint die Immission demnach

BGE 101 II 248 S. 252

nicht als durch einen solchen gerechtfertigt. Im übrigen geht ein nächtliches Weiden mit Glocken über das hinaus, was nach heutiger Auffassung in einem Wohnquartier allgemein zu ertragen ist. Die Vorinstanz erblickt zwar einen wesentlichen Unterschied zu dem in BGE 45 II 402 ff. beurteilten Fall darin, dass X. den Alpen bedeutend näher liege als Frauenfeld. In geographischer Hinsicht ist ihr zweifellos beizupflichten. Dies ändert aber nichts daran, dass mit Bezug auf das hier allein ausschlaggebende Merkmal – den Charakter des Quartiers, in welchem die Grundstücke liegen – die Verhältnisse sehr ähnlich sind.
bb) Das Bedürfnis des Beklagten, seinem Vieh zur Nachtzeit Glocken umzuhängen, ist auch nicht etwa durch eine sich aus Lage oder Beschaffenheit des Grundstückes ergebende sachliche Notwendigkeit gerechtfertigt. So spricht das Obergericht lediglich von einem “sinnvollen Brauch”. Es fügt allerdings bei, dass das Glockengeläute für den Tierbesitzer eine gewisse Kontrolle bilde, doch ist nicht einzusehen, worin diese bestehen soll. Auf Grund der für das Bundesgericht verbindlichen Ausführungen der Vorinstanz steht nämlich fest, dass beide in Frage stehenden Weideplätze eingefriedet sind und dass der grössere von ihnen nur etwa 5 1/2 ha umfasst. Zwar kann der Zaun ein Entkommen der Tiere nicht mit letzter Sicherheit verhindern; doch wird der Beklagte ein nächtliches Durchbrennen eines Tieres auch dann nicht ohne weiteres bemerken, wenn dieses eine Glocke trägt. Dem Argument, entlaufene Tiere könnten leichter aufgefunden werden, wenn sie Glocken trügen, ist entgegenzuhalten, dass einerseits sich die Weiden im Dorf befinden und anderseits die Umgebung von X. mit den zahlreichen Einzelhöfen verhältnismässig dicht besiedelt ist, so dass ein durchgebranntes Tier leicht aufgefunden werden kann. Anders verhielte es sich, wenn eine entlegene ausgedehnte und unwegsame Alpweide in Frage stünde.
c) Es ergibt sich somit, dass der Beklagte keine begründete Veranlassung dafür namhaft zu machen vermag, dem Vieh beim Weiden zur Nachtzeit Glocken umzuhängen, wogegen der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Unterlassung dieser Art der Bewirtschaftung des Nachbargrundstückes geltend machen kann. Die Berufung ist demzufolge in diesem Punkt gutzuheissen und das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass dem Beklagten verboten wird, seinem Vieh beim Weiden
BGE 101 II 248 S. 253
auf den Parzellen Nr. 199 und 222 zur Nachtzeit Geläute umzuhängen. Die vom Kläger beantragte zeitliche Einschränkung (20.00 Uhr bis 07.00 Uhr) erscheint dabei als den Verhältnissen angemessen.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
In teilweiser Gutheissung der Berufung wird das angefochtene Urteil des Obergerichts von Appenzell A. Rh., 2. Abteilung, vom 26. September 1974 in dem Sinne abgeändert, als dem Beklagten unter Androhung der Bestrafung nach Art. 292 StGB (Haft oder Busse) und der Zwangsvollstreckung bei Nichtbefolgung (zusätzlich) verboten wird, seinem Vieh beim Weiden auf den Parzellen Nr. 199 und 222 zur Nachtzeit, d.h. von 20.00 Uhr bis 07.00 Uhr, Treicheln, Schellen oder Glocken anderer Art umzuhängen; im übrigen wird das angefochtene Urteil bestätigt.


ZOL.ch


Bundesgerichtsurteil BGE 101 II 248


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