Richter berufen sich in Besuchsrechtsstreit auf den Scheinriesen Tur Tur, eine Figur aus «Jim Knopf»

Ein verstörter Elfjähriger soll durch die Wiederaufnahme des Kontakts zum Vater erkennen, dass dieser nicht jenes Monster ist, als das er dem Buben nach drei Jahren erscheint. Das Obergericht zieht den Vergleich zu einer Figur aus einem populären Kinderbuch.

Der liebenswürdige, einfühlsame und hilfsbereite Herr Tur Tur ist ein armer Tropf. Einsam haust er in der Wüste am Ende der Welt. Dabei ist er doch ein geselliger Bursche und liebt Besuch. Aber wer ihn von fern erblickt, nimmt ihn als furchteinflössenden Giganten wahr. Nur wer den Mut hat – und den haben die wenigsten –, trotzdem auf ihn zuzugehen, wird gewahr, dass der imponierende Herr Tur Tur ein Scheinriese ist. Mit abnehmender Distanz zum Wüstenfahrer schrumpft er nämlich, und schliesslich steht der Besucher von einem normal grossen, ganz und gar nicht einschüchternden Mann.

Zahllose Eltern im deutschsprachigen Raum kennen Herrn Tur Tur vom Erzählen von Gutenachtgeschichten oder aus ihrer eigenen Kindheit, als die legendären Marionetten der Augsburger Puppenkiste über die Fernsehbildschirme flimmerten. Das gilt offensichtlich auch für das eine oder andere Mitglied der II. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts. Diese beruft sich nämlich in einem unlängst veröffentlichten schriftlichen Urteil auf den Tur-Tur-Effekt.

Mehr als bloss der Erzeuger

Herr Tur Tur steht hier für einen Mann, der in einen jahrelangen erbitterten Streit um sein Recht auf die Wiederaufnahme des Kontakts zu seinem Sohn verwickelt ist. In den bald drei Jahren, die er nun vom Vater ferngehalten wurde, hatte der offenbar von der Mutter stark beeinflusste Bub eine heftige Abneigung und auch eine grosse Furcht vor dem leiblichen Vater entwickelt. Je weiter der Mann im übertragenen Sinn von dem Kind weg war, desto panischer reagierte dieses auf die Aussicht zu einem persönlichen Treffen.

Der Vater war weder mit der Mutter seines inzwischen elfjährigen Sohnes verheiratet, noch hatte er je mit ihr zusammengelebt und eine Beziehung geführt. Die beiden pflegten auch keinen gemeinsamen Freundeskreis und verkehrten bloss auf der Eltern-Ebene miteinander. Denn der Mann ist schwul und ein Aktivist für die Rechte Homosexueller.

Aber er wollte ein richtiger Vater sein und nicht bloss der Erzeuger des Sohnes. Stets hielt er guten Kontakt zu dem Buben. Er betreute ihn seit der Geburt stunden- und tageweise. Seine Mutter übernahm liebend gern die Grossmutterrolle, und sein Bruder wurde der Patenonkel des Knaben. Eine verbindliche Regelung der Kontakte zum Kind hatte der leibliche Vater aber nie mit der Mutter getroffen.

Angeblicher Kindsmissbrauch

Dies sollte sich acht Jahre nach der Geburt des Kindes als folgenschweres Versäumnis herausstellen. Ende Dezember 2016 brach die Mutter den Kontakt zum Vater abrupt ab und wehrte sich fortan gegen jegliche Treffen des Mannes mit dem Buben.

Am 4. Januar 2017 erstattete die Frau eine Anzeige wegen sexueller Handlungen mit Kindern. Mitte Januar stellte der Vater, der zu jenem Zeitpunkt noch nichts von den Beschuldigungen der Mutter wusste, bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Hinwil einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht und die Regelung des Besuchsrechts.

In einem Telefongespräch Anfang März eröffnete ihm der zuständige Verfahrensleiter der Kesb, dass bei der Polizei eine Anzeige gegen ihn eingereicht worden sei und dass er seinen Sohn einstweilen nicht mehr sehen dürfe. Über die Art der gegen ihn erhobenen Vorwürfe gab der Behördenvertreter keine Auskunft.

Die Anschuldigungen liessen sich in der Folge ohnehin nicht belegen, auch nicht durch belastende Aussagen des offenbar von der Mutter zum Lügen angestifteten Buben. Es blieb einzig der Vorwurf, dass der Vater dem Kind Alkohol zum Kosten gegeben hatte.

Im September 2017 hob die Kesb den vorsorglichen Entzug des Besuchs und Kontaktrechts wieder auf und ordnete ein sogenanntes begleitetes Besuchsrecht an. Die Beiständin des Kindes sollte diese Kontakte in einem sogenannten Besuchstreff organisieren und wenn nötig zwischen den Eltern vermitteln.

Sture Mutter

Dagegen wehrte sich die Mutter beim Bezirksrat Hinwil. Nach langem Hin und Her, ob dem verängstigten Kind der Kontakt zum dämonisierten Vater zugemutet werden könne oder nicht, hob der Bezirksrat die von der Kesb angeordneten begleiteten Besuchskontakte schliesslich auf. Stattdessen wurden zwei Erinnerungskontakte im Jahr 2019 bei der Psychologin angeordnet, die den Knaben während des Verfahrens begutachtet hatte. Diese Kontakte sollten dessen gänzliche Entfremdung vom Vater verhindern.

Die Mutter blieb unnachgiebig und zog den Fall ans Obergericht weiter. Dieses bestätigte nun den Entscheid des Bezirksrats und ergänzte die beiden für das Jahr 2019 angeordneten Erinnerungskontakte durch vier weitere Treffen im kommenden Jahr.

Es gehe hier nicht um eine weitere Traumatisierung des Kindes, wie dies die Mutter behaupte, schreibt das Obergericht in seinem Urteil. «Vielmehr geht es darum, das äusserst negative und monströse Vaterbild zu korrigieren»: ein Bild wie jenes, das sich der kleine Jim Knopf anfangs vom Scheinriesen Tur Tur in der Wüste am Ende der Welt gemacht hatte und das sich dann bei der Annäherung an das vermeintliche Monster sehr schnell änderte.

Notfalls mit der Polizei

Seine Aufgabe sei es nicht, die Schuldfrage an der gegenwärtigen Situation eines der beiden Elternteile zu klären, schreibt das Gericht weiter. Vielmehr gelte es, die schädlichen Folgen des seit mehr als zweieinhalb Jahren andauernden Kontaktabbruchs zu mildern und das Zerrbild, das der Sohn inzwischen vom Vater habe, an der Realität zu messen und zu korrigieren. Und falls sich die Mutter weiterhin gegen diese Erinnerungstreffen sperren sollte, ist die Kantonspolizei ermächtigt, das Kind abzuholen und zu den Treffen in der Praxis der Psychologin zu bringen.

 

Von Alois Feusi



NZZ.ch


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