Die Vatersuche der Töchter


Die Vatersuche der Töchter

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Problemkinder sind sie nicht, die vaterlosen Töchter , sie sind gesellschaftlich nie auffällig geworden. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür , dass über die Töchter, die ohne ihre leiblichen Väter aufgewachsen sind, weder psychologische noch sozialwissenschaftliche Studien vorliegen. Selbst in der Literaturwissenschaft wird ihr Schicksal nur auf Nebenschauplätzen, als Folge des Liebesverrats, der Treulosigkeit, Buhlschaft oder Schändung verhandelt. Auch das erkenntnisleitende Motiv der Vatersuche, der Weg in die Welt als Prozess der Selbstfindung, ist in der christlich-abendländischen Literaturgeschichte ausschliesslich ein Privileg der Söhne. Dass die abwesenden Väter auch eine Rolle im Leben der Töchter spielen und was es für diese bedeutet, ohne ihren Vater aufzuwachsen, scheint bislang – außer in psychoanalytischen Fallstudien oder therapeutischen Prozessen – niemanden interessiert zu haben. Obwohl es längst zum Allgemeingut gehört, dass, wer eine Mutter hat, auf der Welt ist, dass aber , wer einen Vater hat, auch einen Platz in ihr findet, bleibt die Frage: Was machen die Töchter , die ihren Vater nicht kennen?

Von Marilyn Monroe wissen wir , dass sie sich zeitlebens danach gesehnt hat, ihren Vater kennen zu lernen. Bis heute interpretieren Psychologen und Klatschreporter die Wahl ihrer Liebhaber und Ehemänner als Ausdruck ihres »Vaterkomplexes«. Doch was, wenn die Wahl ihrer Liebhaber und Ehemänner schlicht Ausdruck eines sehr komplexen Vaterbildes und die Komplexität dieses Vaterbildes ein Ausdruck ihrer Vatersuche war? Joyce Carol Oates beschreibt in »Blond«, einer fiktiven Biographie über Marilyn Monroe, wie viel Energie und Phantasie Marilyn Monroe aufgewendet hat, um sich ihren Vater immer wieder neu zu erfinden. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Vater geschichtenerfindung auch eine Möglichkeit ist, in die Welt zu kommen, sich anhand des Geschichtenerzählens in ihr zu orientieren und zurechtzufinden. Dass es verdammt durcheinander zugehen kann in einer Welt ohne Vater, wissen wir von der berühmtesten Vater-Geschichten-Erfinderin aller Zeiten: Pippi Langstrumpf. Herrin der Villa Kunterbunt ist die Phantasie. Seemannsgarn spinnen gehört zur Tagesordnung. Doch als Pippis Vater »Efraim Langstrumpf, früher der Schrecken der Meere, jetzt Negerkönig«, wirklich auftaucht, ist jeder Zweifel an Pippis Geschichten dahin. Pippis Platz im Leben und in der Welt ist gesichert.

Joyce Carol Oates und Astrid Lindgren haben uns hier die Augen für das Schicksal der vaterlosen Töchter und das Drama der Vaterentbehrung geöffnet. Sie haben das Geschichtenerfinden als eine Fähigkeit der Lebensbewältigungs- und Überlebensstrategie hoffähig gemacht. Doch weder Joyce Carol Oates noch Astrid Lindgren haben die Fähigkeiten ihrer Protagonistinnen genutzt und sie aktiv ihren Vater suchen lassen. Marilyn Monroes Leben endet im Mythos vom Hollywood-Opfer, und Pippis Spur verliert sich vermutlich irgendwo in Taka-Tuka-Land.

Das Kapitel ihrer Vatersuche müssen die vaterlosen Töchter also selbst schreiben.

Frauen – vaterlos oder mit einem Stiefvater aufgewachsen – haben uns die Geschichte ihrer Suche erzählt: von der
Entdeckung, dass der Mann daheim nicht der richtige Vater ist, von langem Zögern, der Angst vor einer Begegnung mit dem leiblichen Vater , von frustrierenden, aber auch glücklichen Zusammentreffen und auch von der Not, niemals zu erfahren, wie ihr Vater aussieht, riecht, spricht. Im Gepäck ihrer Vatersuche hatten die Töchter meist nicht viel mehr als die Andeutungen ihrer Mütter , Vermutungen und ein paar vage Erinnerungen; gab es einen Namen, eine Nummer oder gar ein Foto ihres Vaters, war das schon viel.

Dass nicht immer die räumliche Entfernung entscheidend dafür ist, ob die Tochter den Weg zu ihrem Vater finden kann,
beschreibt am deutlichsten die Lebensgeschichte von Marianne. Ihr Vater lebte bis zu seinem Tod gerade mal einen Steinwurf weit entfernt, und nie hat sie mit ihm auch nur ein Wort gewechselt.

Natürlich klingen in den Lebensgeschichten der vatersuchenden Töchter auch die Geschichten ihrer Mütter und Väter mit. Geschichten, die vor ihrer Zeit stattgefunden haben, die sie nur vom Hörensagen kennen oder die sie sich selbst zusammenreimen mussten: Treuebruch, gekränkte Eitelkeiten, verpasste Chancen, die bucklige Verwandtschaft, der Tod des Vaters als unabwendbares Schicksal, der Vaterverlust als Folge des Krieges, die Teilung Deutschlands – es ist ein Thema mit vielen Variationen. Zugleich sind diese Geschichten Mosaiksteinchen zur Sitten- und Moralgeschichte fast eines ganzen Jahrhunderts und nicht zuletzt eine Reise durch das geteilte und wiedervereinte Deutschland. Womit eines gewiss ist: Es sind immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Lebensgeschichten der Töchter mitgeschrieben haben.

Welche Bedeutung der abwesende Vater für ihr Leben hatte, welche Rolle sie ihm auf der inneren Bühne erfunden und wie sie ihn gesucht haben, wollten wir von den 20 Frauen, mit denen wir gesprochen haben, genauer wissen. Fragen, die sie zurückgeschickt haben in eine Zeit, an die sich einige nur mit Schmerzen und Tränen erinnern konnten.
Viele Geschichten beginnen im Heim, bei Pflegeeltern, Grosseltern oder Tanten. Der Mann im Haus der Mutter wurde kurzerhand zum Vater der Tochter , womit zwar der äußere Schein gewahrt war , aber der Realitätssinn der Tochter attackiert wurde.

In den seltensten Fällen lagen im Leben der Töchter , die ohne ihren leiblichen Vater groß wurden, die Karten offen auf dem Tisch. Mühsam mussten sie, von Andeutungen, Hinweisen, einem Flickwerk von Geschichten ausgehend, sich die Geschichte ihres eigenen Lebens suchen. Und häufig wurde der richtige Vater auf ihrer inneren Bühne zu dem Helden, mit dem sie ein anderes Leben hätten führen können, eines mit mehr Aufmerksamkeit, mehr Zärtlichkeit, mehr Liebe. Anders als Marilyn Monroe oder Pippi Langstrumpf sind unsere Gesprächspartnerinnen jedoch keine Vatergeschichtenerfinderinnen. Wenn es um den leiblichen Vater geht, unterscheiden sie sehr genau, wie sie sich ihren Vater vorgestellt, was sie sich ausgedacht haben und was wirklich geschehen ist.

Szene für Szene reihen sie die Momente ihrer Suche wie in einem Film aneinander. Vaterlose Töchter sind Geschichtenerzählerinnen, so scheint es. Doch ihr Erzähltalent ist zugleich Ausdruck ihrer Not. Denn viel mehr als diese Episoden haben sie nicht. Manchmal reichen die Finger einer Hand aus, um die markanten Momente bei der Suche nach dem Vater zu zählen, und oft genug sind auch diese Geschichten genau genommen Bestandteil fremden und nicht des eigenen Lebens. Entsprechend kostbar sind die Erinnerungen und Augenblicke, in denen die Idee oder das Bild des Vaters, mitunter sogar dieser selbst, auftauchen. Auch wenn nicht alle Töchter ihren Vater gefunden haben und ihn vielleicht auch nie finden werden – allein die Beschäftigung mit der Frage, wie ein Leben mit ihm hätte aussehen können, hat etwas von ihrem Vater in ihr Leben geholt und damit fast immer auch einen Prozess der Selbstfindung ausgelöst.

Anhand ihrer Erfahrungen beschreiben die 20 Töchter in diesem Buch, wie sehr die Vaterentbehrung ihr Leben geprägt
hat: dass die Vatersuche nicht nur im Äußeren stattfindet, ein oft mühseliger Weg durch Ämter und Behörden, sondern auch eine Reise ins Innere ist. Schonungslos und aufrichtig stellen sie sich die Fragen: Wer bin ich? Was bedeutet es, einen Teil von mir nicht zu kennen, nur unvollständige Wurzeln zu haben? Wie viel vom Vater steckt in mir? Inwieweit hat der Vater mein Selbstverständnis als Frau, vielleicht auch meine sexuelle Identität bestimmt, obwohl er abwesend war? Welches Männerbild habe ich? Nach welchen Kriterien habe ich meine Partner gewählt, und was müssen die leisten? Sie sprechen vom Mut, ein eigenes Leben zu entwerfen. Viele beschreiben einen Weg ohne männliche oder weibliche Vorbilder und ihre Zweifel, überhaupt einen Platz in der Welt zu finden.

Die Psychotherapeuten und -analytiker Gisela Heidenreich, Sigrid Huth und Wolfgang Petri haben die Probleme von Töchtern, die ohne ihren leiblichen Vater aufgewachsen sind, in diesem Buch einfühlsam und einleuchtend dargelegt. Dafür danken wir ihnen sehr. Die wahren Expertinnen jedoch für die Frage, welche Rolle ein abwesender Vater im Leben der Töchter spielt, sind die Töchter , die hier zu Wort kommen.


Christoph Links Verlag.de


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, Entfremdung, Verantwortlichkeit