Familien-Gutachter haben vor Gericht eine große Verantwortung: Sie bewerten die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern. Eine Studie aus Hagen zeigt nun: Die Mehrzahl der Gutachten an NRW-Gerichten hält nicht mal Mindeststandards ein.
Traumhäuser analysieren, Tiere deuten und daraus abwegige Schlussfolgerungen ziehen – beim Großteil der Gutachten vor NRW-Familiengerichten läuft einiges falsch, belegt eine Studie. Wie Sachverständige die Beziehung zwischen Kindern und Eltern beurteilen, beeinflusst Richter in ihrem Urteil. Und das entscheidet über die Zukunft von Familien. Der Leiter der Studie, Stefan Stürmer, im Interview.
Stefan Stürmer ist Professor für Psychologie an der Fernuniversität Hagen und Mitglied der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Er und seine Kollegin Christel Salewski, ebenfalls Professorin für Psychologie an der Fernuni Hagen, waren verantwortlich für die Studie, für die 116 Gutachten von vier Amtsgerichten im OLG-Bezirk Hamm aus den Jahren 2010 und 2011 untersucht wurden.
WDR.de: Machen psychologische Gutachter vor deutschen Familiengerichten einen schlechten Job?
Stefan Stürmer: Begründete Zweifel an ihrer Arbeit gibt es. Die Gutachtenqualität ist in Deutschland dringend verbesserungswürdig. Es geht um wichtige Verfahren, in denen Lebensentscheidungen getroffen werden, mit denen in Grundrechte von Eltern und Kinder eingegriffen wird.
WDR.de: Was hat Ihre Untersuchung ergeben?
Stürmer: Dass es einen Missstand gibt. Unsere Studie hat gezeigt, dass bis zu über 50 Prozent der Gutachten fachliche Mindeststandards nicht erfüllen. Das NRW-Justizministerium hat unsere Studie zum Anlass genommen, bei den Familiensenaten der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Hamm und Köln nachzufragen. Die angehörten Vorsitzenden Richter und Richterinnen teilen überwiegend die Auffassung, dass die Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten in der Praxis Probleme bereitet.
WDR.de: Um welche Fälle geht es?
Stürmer: Es geht häufig um Sorgerechtsentscheidungen, Fälle, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht betreffen, zum Beispiel auch bei Rückführungen in problematische Familien oder Pflegefamilien. Das Gericht möchte feststellen, ob ein Elternteil erziehungsfähig ist oder ob eine Entscheidung dem Kindeswohl dient.
WDR.de: Was ist bei den Gutachten schief gelaufen?
Stürmer: Die Gespräche sind kaum von Alltagsgesprächen zu unterscheiden. Aus der Dokumentation ist oft überhaupt nicht ersichtlich, welche Sachverhalte diagnostiziert werden sollen. Die Schlussfolgerungen sind wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Die Verhaltensbeobachtungen sind zum größten Teil unsystematisch. Insgesamt ist kein Bemühen erkennbar, durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden Urteilsfehler zu minimieren oder auszuschließen. Ein Beispiel ist die Verwendung sogenannter projektiver Testverfahren.
WDR.de: Was ist damit gemeint?
Stürmer: Ein Beispiel ist der Test “Familie in Tieren“. Dabei werden Kinder aufgefordert, ihre Familie als Tiere zu zeichnen. Aus der Wahl der jeweiligen Tiere für einzelne Familienmitglieder wird gedeutet, welche Beziehung das Kind zu dem- oder derjenigen hat. Aus systematischen Untersuchungen dieser Verfahren weiß man, dass sie überhaupt keinen Vorhersagewert im Hinblick auf die tatsächliche Beziehung haben. Sie sind höchst fehleranfällig – mit weitreichenden Folgen.
WDR.de: Können Sie ein Beispiel geben?
Stürmer: In einem Gutachten wurde ein Kleinkind dazu aufgefordert, sein Traumhaus zu zeichnen. Deutsch war nicht die Muttersprache des Kindes. Es hatte die Aufgabe zunächst nicht verstanden, weil es mit dem Begriff “Traumhaus” wohl nichts anfangen konnte. Es wurde dann aufgefordert, die Personen dort einzuzeichnen, mit denen es dort leben möchte. Das Kind hat daraufhin sich selbst und seine beiden Haustiere gemalt. Der Sachverständige hat daraus gefolgert, dass das Kind keine gefestigte Beziehung zu seinen Elternteilen haben kann. Sonst hätte es sie ja auch in sein Traumhaus gezeichnet. Schon mit einem alltagspsychologischen Blick darauf läuft es einem kalt den Rücken runter.
WDR.de: Wie kann so etwas passieren?
Stürmer: Das Diplomstudium Psychologie bereitet nur eingeschränkt auf die Tätigkeit als rechtspsychologischer Sachverständiger vor. Deshalb sagen die psychologischen Fachverbände einhellig, dass gerichtspsychologische Gutachten nur von Fachpsychologen für Rechtspsychologie durchgeführt werden sollen. Ein anderes Problem ist das Verhältnis zwischen dem Gericht und dem Sachverständigen selbst.
WDR.de: Die Gerichte können sich ihre Experten aussuchen?
Stürmer: Ja, so treffen sich die Vorstellungen von Richtern – die keine psychologische Ausbildung haben – mit einem wirtschaftlichen Auftragnehmer. Dabei gibt es vermutlich die Tendenz, sich jemanden auszusuchen, der etwas schreibt, was man für alltagsplausibel hält. Gleichzeitig sind viele Sachverständige wirtschaftlich davon abhängig, von den Gerichten beauftragt zu werden. Was ein Sachverständiger am Ende schreibt, muss den fachlichen Standards nicht unbedingt genügen.
WDR.de: Was können Betroffene tun, die sich als Opfer einer Fehlbegutachtung fühlen?
Stürmer: Es ist fast unmöglich, dagegen etwas zu unternehmen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen verweist auf das Schieds- und Ehrengericht. Ich habe einmal gemeinsam mit zwei Professorenkolleginnen eine Psychologin vor dem Schieds- und Ehrengericht für schwere Verstöße bei der Begutachtung angezeigt. Am Ende ist sie vor Einleitung eines Verfahrens aus dem Verband ausgetreten. Sie unterstand damit auch nicht mehr der Verbandsgerichtsbarkeit. Der Berufsverband hat der Psychologin im Übrigen den jederzeitigen Wiedereintritt angeboten. Das ist für den Berufsstand beschämend. Die Betroffenen in den Rechtsstreitigkeiten, in die Sachverständige involviert sind, sind auch in den seltensten Fällen Arztehepaare. In der Mehrheit sind es Fälle, bei denen das Jugendamt involviert ist, häufig sozial schwache Familien. Wie können sich diese Betroffenen an so einem Ehrengerichtsverfahren beteiligen? Das ist völlig abwegig. Auch zivilrechtliche Verfahren sind sehr kompliziert und voraussetzungsreich. Für die Betroffenen gibt es aktuell eine Rechts- und Schutzlücke.
WDR.de: Was muss geändert werden?
Stürmer: Die Ausbildung der Sachverständigen und der Dialog mit den Richtern muss verbessert werden. Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum es keine stärkeren gesetzlichen Regelungen gibt. Die Qualifikation für Sachverständige muss gesetzlich spezifiziert und Qualitätsstandards für psychologische Gutachten müssen definiert werden. Ich halte es auch für notwendig, dass für Rechtspsychologen – ähnlich wie Psychotherapeuten und Ärzte – eine Kammerpflicht eingeführt wird, die berufliche Fortbildungen, Qualitätskontrollen u.a. gewährleistet . Momentan gibt es diese Verpflichtung nicht.
Das Gespräch führte Insa Moog.