Im Ermittlungsverfahren um die vermeintliche Kindsentführerin Sarah C. fahren die Behörden mit grobem Geschütz auf: Der Anwalt von C. sitzt in U-Haft, ein Nationalrat ist in den Fall involviert. Von ihrer Tochter hat C. seit Monaten kein Lebenszeichen.
Sarah C. war mit ihrer 14 Monate alten Tochter acht Monate untergetaucht. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Biel hatte der damals 33-Jährigen kurz nach der Geburt ihr Kind weggenommen und es im Kinderheim Stern im Ried in Biel untergebracht. Mehrere Personen und Vereinigungen unterstützten die Frau beim Kampf um ihre Tochter. Vergeblich. C. entschied sich zur Flucht. Die Polizei erliess einen internationalen Haftbefehl. Vor zwei Monaten wurde C. in Südfrankreich verhaftet(BIEL BIENNE berichtete). Aufgrund elektronischer Spuren konnten die Ermittler ihren Aufenthaltsort einkreisen, dann schlugen lokale Gendarmen in Aix-en-Provence zu. Das Kleinkind wurde zurück ins Heim verfrachtet, die Mutter ausgeliefert und in Untersuchungshaft genommen. Der Vorwurf: Entziehung respektive Entführung von Minderjährigen. Nahestehende sind in grosser Sorge, C. sei akut suizidgefährdet.
Pirmin Schwander.
Kurz nach der Verhaftung von C. wurde deren Anwalt W.* und dessen Sekretärin S.* ebenfalls in U-Haft genommen. Beide stehen im Verdacht, C. bei ihrer Flucht unterstützt respektive «Gehilfenschaft» geleistet zu haben. Grund für die U-Haft: Verdunkelungsgefahr. Alle drei sitzen derzeit in verschiedenen Regionalgefängnissen im Kanton Bern ein. Damit will die Justiz vermeiden, dass sich die Beschuldigten absprechen. Die Behörden ermitteln auch im Umfeld von C. Letzte Woche befragte die Kantonspolizei (Kapo) in Biel verschiedene Personen, darunter auch den Schwyzer Nationalrat Pirmin Schwander. Der SVP-Politiker setzte sich wiederholt für Personen ein, die mit der KESB Probleme haben, prominentes Beispiel ist die Basler Schriftstellerin Zoë Jenny. Die Polizei konfrontierte die Befragten unter anderem mit Auszügen aus Telefonprotokollen und -gesprächen.
Existenz zerstört.
«Der Staat will offenbar ein Exempel statuieren», sagte Schwander gegenüber BIEL BIENNE vor einigen Wochen. «Ein Anwalt hat die Pflicht, sich für die Interessen seines Mandanten einzusetzen!» Es könne doch nicht sein, dass der Staat dies behindere. Schwander zieht politische Schritte auf nationaler Ebene in Betracht. Anwalt W. wird durch seinen Kollegen Patrick Götze aus Meilen (ZH) vertreten. Als Strafverteidiger sei einem sehr wohl bewusst, dass in der Schweiz schnell U-Haft angeordnet wird. «Dass nun aber ein unbescholtener Rechtsanwalt für das ihm vorgeworfene Delikt für Wochen und Monate in Haft behalten wird, schlägt dem Fass den Boden aus.» Die Staatsanwaltschaft zerstöre damit mutwillig seine persönliche und berufliche Existenz und wird dabei auch noch vom Gericht gedeckt. «Es wird von den Behörden eine Verdunkelungsgefahr geltend gemacht, welche nach all den umfangreichen Untersuchungshandlungen nur noch sehr theoretischer Natur ist.» Voraussichtlich wird W. erst in einem Monat freikommen. Die Entführung eines Kindes ist ein gravierendes Delikt. Es drohen bis zu fünf Jahre Knast, im Fall C. wird das Gericht allerdings mildernde Umstände berücksichtigen, denn bei der «Entführerin» handelt es sich um die leibliche Mutter.
Kritik an KESB.
Genau hier liegt die Tragik des Falles: Aus Sicht der Bürgervereinigung KESV hätte es nie soweit kommen dürfen. «Die KESB Biel hat C. systematisch in die Enge getrieben», berichtet Jasminka Brcina, Initiantin der KESV. Gemäss damaliger Verfügung hätte die KESB Mutter und Kind nach dem Wochenbett in eine passende Institution führen sollen. Stattdessen plazierte man das Neugeborene im Stern im Ried. Pikant: In dessen Vorstand sass damals eine im Fall C.
involvierte KESB-Mitarbeiterin. Diese musste später in den Ausstand treten. Die KESV versuchte vor der Verhaftung mit der KESB und Kapo eine Lösung zu finden. «Es interessierte sich niemand für eine mögliche Annäherung», so Brcina. Nun entreisse man ihr das Kind erneut und nehme bei beiden eine weitere Traumatisierung in Kauf.
Keine Chance.
Letzten Freitag wurde Sarah C. auf dem Bieler Posten der Kantonspolizei einvernommen. Anwesende berichten, sie habe gebrochen gewirkt, sich aber klar und präzise geäussert. C. sagte aus, sie habe mit den Behörden «alles probiert». Dann hätte die Tochter in eine Pflegefamilie plaziert werden sollen und C. hätte sie länger nicht mehr sehen können. Das sei der Auslöser für die Flucht gewesen. Anwalt W. und die Sekretärin hätten sie wiederholt getroffen und moralisch und finanziell unterstützt. Auch Nationalrat Schwander sei ihr mit mehreren tausend Franken beigestanden, gesehen habe sie ihn aber nie persönlich. Motiv aller Helfer: persönliche Betroffenheit und Missbilligung der behördlichen Vorgehensweise. C. sei während der Flucht angespannt gewesen, finanzielle Sorgen, kein fester Schlafplatz. Psychisch sei es ihr aber gut gegangen. Die Tochter sei wohlauf gewesen, beide seien glücklich gewesen, zusammen zu sein. Auch Anwalt W. und die Sekretärin bestätigten, C. habe gut für die Kleine gesorgt. Die französischen Behörden untersuchten die Kleine nach der Verhaftung, sie sei «fit und gesund» gewesen. Warum C. nicht die Obhut für ihre Tochter habe, wollten die Ermittler wissen. «Man hat mir nie eine Chance gegeben …»
Skandal.
Von ihrer Tochter hat C. seit der Verhaftung nicht das geringste Lebenszeichen erhalten. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist, wie es ihr geht, was sie tut. «Dies ist skandalös und einer Demokratie unwürdig», wettert ein bekannter Bieler Anwalt, der im Zusammenhang mit dem Fall nicht namentlich genannt werden möchte. Ein Behördenopfer sei in die Rolle der Täterin getrieben worden, nun hoffe die KESB auf einen Richterspruch, um das eigene Versagen zu kaschieren. Grotesk: Im Strafverfahren «klagt» das zweijährige Kind als Privatkläger gegen die eigene Mutter, vertreten durch einen Verfahrensbeistand. Brcina: «In einigen Jahren wird es sich fragen: Warum ist man so mit meiner Mutter umgegangen und hat mich dazu instrumentalisiert, aus ihr eine Kriminelle zu machen?» Kantonspolizei und Staatsanwaltschaft haben nach der Verhaftung von C. eine Infosperre für die Dauer der Ermittlungen verhängt. Die KESB Biel äussert sich «aus Datenschutzgründen» nicht zum Fall C. Vor dem Gebäude der Kapo hielt am Freitag ein halbes Dutzend Menschen eine Mahnwache. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte mit den Behörden. Einigkeit herrscht in der Ansicht: «So etwas darf nicht passieren!»
*Namen der Redaktion bekannt.
(VON HANS-UELI AEBI)