Gefangen im Entfremdungsstrudel
Interview: Barbara Hofmann
Die Entführung eines Kindes durch einen Elternteil hat massive psychische Auswirkungen. Die Psychologin und Mediatorin Miriam Rosenthal erklärt, welche langfristigen Folgen für die Kinder entstehen können.
Welche Folgen hat es für das Kind, wenn ein Elternteil dem andern das Kind entzieht?
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ein Kindesentzug wie im Entführungsfall von Alessandro, zwar auch räumlich, gewissermassen nach aussen, stattfinden kann – Kindesentzug kann aber auch im Stillen in vielen Schweizer Familien stattfinden, ohne dass dies nach aussen in dieser extremen Form sichtbar wird.
Wie meinen Sie das?
Unter Kindesentzug verstehe ich die bewusst oder unbewusst beeinflusste Entfremdung eines Kindes vom anderen Elternteil. Also auch ein psychologischer Kindsentzug. Die Folgen für das Kind sind vielschichtig. In der Fachterminologie spricht man vom PAS Parental-Alienation-Syndrome (Eltern-Entfremdungssyndrom). Dieses Syndrom liegt aber nicht nur beim sogenannt entfremdeten Kind vor, sondern beschreibt eigentlich eine dysfunktional-verzerrte Dynamik des gesamten getrennten Familiensystems.
Wie müssen wir uns das vorstellen? Haben Sie Beispiele aus der Praxis?
Da ist eventuell eine Mutter, die vom Vater enttäuscht ist, vielleicht weil er eine aussereheliche Beziehung eingegangen ist, oder mehr Unterhalt zahlen sollte. Die Mutter zieht die Kinder, vielleicht sogar unbewusst, auf ihre Seite, verbündet sich mit ihnen gegen den Vater. So wird der Vater zum Feind. Oder der Vater ist mit der Mutter unzufrieden, er denkt, sie sei unzuverlässig und mit der Erziehung überfordert. Vielleicht unbewusst holt der Vater die Kinder auf seine Seite, indem er die Mutter als psychisch belastet und überfordert hinstellt.
Wir haben es im Fall von Alessandro mit einer Art von Misch-Entzug zu tun. Der Bub wurde räumlich und psychologisch der Mutter entzogen.
Ein räumlicher Kindesentzug, wie z.B. bei einer Kindsentführung, zieht immer einen psychologischen Entfremdungsverlauf nach sich. Das Kind muss ja mit der effektiven, auch emotionalen Trennung von einem Elternteil innerlich, seelisch fertig werden.
Was sind mögliche kurzfristige Folgen in diesem Fall?
Das Kind versucht emotional zu überleben, es entwickelt eigene Überlebensmechanismen. Es muss dazu innerlich etwas abspalten: Im geschilderten Fall ist es wohl die Mutter und das Zuhause bei ihr. Die Mutter MUSS innerlich abgewertet werden, damit das Kind diese innere (und äussere) Trennung aushalten kann. Somit leugnet das Kind aber auch einen Teil der eigenen Identität, des eigenen Selbstwertes, der Liebe zu sich selbst. Das Kind entwickelt sich quasi nur in seiner halben Persönlichkeit. Dazu kommt, dass das Kind Angst hat, nach dem Verlust des einen Elternteils auch den anderen und dessen Liebe zu verlieren. Also muss es diese Angst kontrollieren. Um im ganzen familiären Chaos sich noch orientieren zu können, entwickelt das Kind eine Schwarzweiss-Sicht der Dinge. Alles ist entweder gut oder böse. Der entfremdende Elternteil unterstützt diese Dynamik und mobilisiert somit das überforderte Kind gegen den anderen Elternteil. Niemand sieht, dass das Kind in grosser Not ist und eigentlich in dieser verzerrten Lebenswelt gar keinen eigenen Willen bezüglich den Elternteilen entwickeln kann. Der Stress, der mit diesem Entfremdungsstrudel einhergeht, kann sich physisch oder psychisch äussern – beispielsweise in verstärkter Aggressivität, aber auch in Zurückgezogenheit, Ängstlichkeit oder Überangepasstheit.
Und die langfristigen Folgen?
Was beim einzelnen Kind passiert, hängt von seinem Alter, vom Entwicklungsstand, der Widerstandskraft, den Ressourcen und der Vorgeschichte ab. Die Bandbreite ist riesig. Je jünger ein Kind ist, umso körperlicher wird es reagieren, weil ihm die übrigen Ventile noch fehlen. Generell empfehle ich Eltern in Trennungs- und Scheidungssituationen so früh und so gut es möglich ist, die destruktive Beziehungsdynamik zu stoppen. Sie sollen innehalten, sich auf ihre Elternrolle besinnen und vielleicht auch den Kindern die Möglichkeit geben, sich zu äussern und ihre Empfindungen in der Situation zu beschreiben.
Welche Folgen hat eine Kindesentziehung beim zurückbleibenden Elternteil?
Das ist abhängig von der individuellen Vorgeschichte. Bei der Mutter von Alessandro kann eine Selbstwertproblematik entstehen. Schon allein deshalb, weil sie ihre Rolle als Mutter verloren hat. Eine abgelehnte Mutter kann eigentlich nichts mehr richtig machen gegenüber dem Kind. Kämpft sie um das Kind, kann es falsch sein – kämpft sie nicht, ebenso. Das traumatisiert sie. Aber das ist bei einem abgelehnten Vater nicht anders. Im Prinzip werden beide Elternteile zum Opfer einer familiären Dynamik, die ausser Kontrolle geraten ist.
Was erlebt der Vater als «Entführer»?
Er steht ebenfalls unter grossem Stress und Angst. Instinktiv sieht er nicht nur behördliche Probleme, sondern auch die Gefahr, die Liebe des oder der Kinder zu verlieren, weil sie im Nachhinein erkennen, was er ihnen angetan hat. Das gilt auch bei der nicht räumlichen Entziehung und für Frauen.
Beziehungs- oder Ehekrisen, die im Kindesentzug gipfeln, sind naturgemäss gegenwartsfixiert. «Jetzt bin ich wütend auf den Partner oder er auf mich, jetzt tut er mir weh…» Darüber geht die zukunftsgerichtete Optik des Kindes verloren.
Das erwachsene Kind wird realisieren, dass ihm die Selbstverständlichkeit einer gelebten Beziehung zu beiden Elternteilen verunmöglicht wurde. Ich sage immer zu zerstrittenen Elternpaaren: «Überlegen Sie mal, was das Kind in zehn, zwanzig Jahren als Erwachsener zu Ihnen sagen wird. Womit es Sie konfrontieren wird. Wofür es Sie in der Kindheit und Jugend gehasst oder geliebt hat. So können Sie die heutigen aktuellen Wünsche Ihres Kindes erahnen, und agieren Sie vor diesem Hintergrund.»
Es gibt eine Menge Gesetze zum Schutz des Kindeswohls – Sie setzen sich jedoch dafür ein, dass bei Kindesentzug mehr noch als bisher auf das Kind gehört wird.
Absolut. Häufig gelingt es entfremdenden Elterteilen, die das Kind dem anderen Elternteil entziehen, das Rechtssystem in ihrem Interesse einzusetzen oder manchmal sogar zu manipulieren. Obwohl «die Parteien», d.h. eigentlich die Eltern, mit dem Kindeswohl argumentieren, geht es häufig in so strittigen Fällen schon lange nicht mehr um das Kind, sondern um das Machtspiel der Eltern. Wenn man die Anliegen von Kindern in strittigen Situationen wirklich hört, dann weiss man wie wichtig es ist, den Eltern nicht allzuviel juristischen Streit-Raum zu geben.
Dabei sind diese Gesetze ja zum Schutz des Kindes geschaffen.
Die Gesetze und die Rechtsnormen sind für den Schutz des Kindes ausserordentlich wichtig. Gerade bei Entführungen. Aber die Lebenssituation des einzelnen Kindes bleibt trotzdem belastet, wenn es nicht die Beziehungen zu Mutter und zu Vater leben darf. Da hilft das Gesetz nicht unbedingt. Ich plädiere dafür, dass in solch schwierigen Situationen die Kinder einen «eigenen Raum» ausserhalb der Familie bekommen, in dem sie zu sich selber finden können und eine Loyalität zu ihrem eigenen inneren Erleben aufbauen können. Das kann vielleicht ein therapeutischer «roter Faden» sein, als konstantes neutrales Beziehungsangebot, das über die Jahre der Kindheit und Jugend innere Sicherheit vermittelt.
Miriam Rosenthal, ehemalige Juristin, ist Psychologin und Mediatorin. Sie lebt und arbeitet in Zürich.