Nicht ohne meinen Sohn


Ein Drittel aller Väter verlieren nach der Trennung trotz geregeltem Besuchsrecht den Kontakt zu ihren Kindern. Die wenigsten geben kampflos auf: So auch Ronnie S., der sich seit Jahren bemüht, seinem Sohn ein guter Vater zu sein. Franziska K. Müller

Ronnie S. geht einer geregelten Arbeit nach, be­zahlt seine Steuern pünktlich und lebt in einer modernen Wohnung im Kanton St. Gallen. Sei­ne Lebensaufgabe ist sein Sohn Jamie*. Täglich beschäftigt sich der Vater mit dem Zwölfjähri­gen. Der eintätowierte Schriftzug auf dem mus­kulösen Unterarm erinnert an das abwesende Kind wie auch abgespeicherte Handyaufnah­men, die den blondgelockten Jungen beim Fahrradfahren oder in den Ferien zeigen. Mit Carlina F.*, der Mutter seines Sohnes, verbindet Ronnie S. wenig. «Wir waren nie ein Paar», sagt der heute Vierzigjährige. Nach der Geburt des Kindes stand für ihn dennoch fest, dass er sich um seinen Sohn kümmern will. Um ihn an den Wochenenden sehen zu können, limitierte er seine beruflichen Auslandaufent­halte auf ein Minimum. Der Kontakt gestaltete sich dennoch von Anfang an schwierig, worauf sich der junge Vater zurückzog. Er vermisste sein Kind und war zudem besorgt, ob Carlina F. ihren elterlichen Pflichten nachkommt. Seine Bemühungen, einen Neuanfang zu machen, stiessen bei der damaligen Sozial­behörde der Zürcher Gemeinde Wald auf wenig Begeisterung oder, wie es Ronnie S.s Anwalt Kai Burkart heute formuliert: «Die Behörde stellte sich dem Anliegen des Vaters, seinen Sohn sehen zu wollen, nun skeptisch und ablehnend gegenüber, und seine geäusser­ten Zweifel gegenüber der Kindsmutter sahen sie fälschlicherweise als blossen Versuch einer Diffamierung.» Carlina F. müsse nicht sanktio­niert, sondern in ihren Problemen unterstützt werden, befand die zuständige Sozialbehörde.
Wochenenden bei «fremden Leuten» Doch irgendwann konnte man die Augen vor den bald aktenkundigen Schwierigkeiten der Mutter nicht mehr verschliessen. Die Errich­tung einer Beistandschaft erwies sich jedoch als weitgehend wirkungslos, und die Bemühun­gen des Vaters, das Sorgerecht sowie die Obhut für seinen Sohn zu erlangen, wurden ignoriert. 2006 – Jamie war inzwischen fünfjährig – wur­de der jungen Mutter das elterliche Sorgerecht entzogen, doch das Kind lebte weiterhin bei ihr. Begründet wurde dieser Entscheid unter ande­rem mit dem Hinweis, Carlina F. leide in Abwe­senheit ihres Sohnes unter Angstzuständen. Ohne den Vater zu informieren, geschweige denn seine Meinung einzuholen, wurde Ja­mie zum gleichen Zeitpunkt ein Vormund zur Seite gestellt, der künftig das Kindeswohl ver­trat und alle rechtlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit seiner Erziehung fällte. «Zuerst haben die Behörden den Vater nicht ernst genommen, danach nahmen sie ihn als unbequemen Querulanten wahr: Es wurde unterlassen und nie ernsthaft in Betracht ge­zogen, das Kind bei ihm unterzubringen», sagt Kai Burkart über einen Kampf, in dessen Verlauf Ronnie S., aber auch seine Eltern den Kontakt zum geliebten Sohn und Enkel ganz verlieren werden. Der Vierzigjährige ist kein Einzelfall: Wäh­rend in den USA die Hälfte aller Männer nach der Trennung den Kontakt zu ihren Kindern verlieren, wird dieser Anteil im deutschsprachi­gen Raum auf rund einen Drittel geschätzt. Der Generationenforscher Gerhard Amendt geht davon aus, dass die Väter die Beziehung zu den Kindern oft erst nach Kämpfen mit den Ex-­Part­nerinnen beenden. Der Kontaktabbruch gesche­he also nicht aus einer Laune heraus, sondern habe in der Regel eine lange Vorgeschichte, die durch verschiedenste Konflikte belastet sei. Die Rechtsmittel bei Intrigen und Verhinde­rungen sind auch in der Schweiz beschränkt: Verstösst ein Elternteil gegen die Besuchsrege­lung, kann eine Busse ausgesprochen werden; dabei handelt es sich erfahrungsgemäss um eine Sanktion, die bei den wenigsten Wirkung zeigt. Als drastischere Massnahme kann da­ nach nur noch ein Besuchsvollzug beantragt werden. In diesem Fall kommt es zu einem Polizeieinsatz, bei dem der Nachwuchs zum Vater befördert wird. «Diesen extremen Vor­ gang wollen die meisten Väter ihren Kindern ersparen», sagt der Psychotherapeut Felix Hof. In seiner bisherigen Tätigkeit als Vorsteher des Regionalen Beratungszentrums Rapperswil­ Jona betreute er jeweils hundert Fälle aus dem Bereich «Sorgerechtsstreitigkeiten». Hochgerechnet sind allein am Obersee rund 300 Kinder betroffen. «Die grosse Zunahme steht in Zusammenhang mit oft schnell statt­ findenden Trennungen, deren Gründe und Konsequenzen erst im Anschluss verarbeitet werden, was zu erbitterten Kämpfen führt, die auf dem Rücken der Kinder stattfinden», sagt Hof. Besonders schwierig werde es, wenn der Wunsch nach einem Kontaktabbruch von den Kindern selbst ausgehe, was häufig der Fall sei: «Die Kinder wollen grundsätzlich beide Eltern sehen, geraten aber aufgrund von Streitigkei­ten oder ungelösten Problemen zwischen Vater und Mutter in einen Loyalitätskonflikt.» In der Schweiz müssen Kinder ab zwölf Jah­ren zudem vor Gericht angehört werden, das heisst, sie dürfen ab diesem Alter meist selbst be­stimmen, wen sie sehen wollen und wen nicht. Da die elterliche Obhut – also die Erziehung, Ausbildung und die gesetzliche Vertretung des Kindes – auch bei geteiltem Sorgerecht fast immer bei den Müttern liege und die Kinder so­ mit die meiste Zeit unter ihrem Dach lebten, sei klar, wer den Kürzeren ziehe, beobachtet Oliver Hunziker vom Verein «Verantwortungsvoller­ziehende Väter und Mütter» (VeV). Zudem wür­ den die Sozialbehörden im Zweifel fast immer zugunsten der Mütter entscheiden. Oliver Hun­ziker ist regelmässig mit ratlosen Vätern konfrontiert, die trotz geregeltem Besuchsrecht nicht mehr weiterwissen und irgendwann auf­ geben. «Mutmasslich wirft jeder dritte Vater die Flinte irgendwann ins Korn», sagt Felix Hof. Auch im Fall von Ronnie S. erwiesen sich die Behörden nicht als Hilfe. Im März 2011 wurde der Mutter die schriftliche Weisung erteilt, sich umgehend beim Bezirksarzt einer Haar­analyse zu unterziehen und die Auswertung vorzulegen. Die Verweigerung dieses Drogen­tests hatte jedoch keinerlei Konsequenzen: drei Jahre lang nicht. In der Zwischenzeit ver­schlechterte sich der Kontakt zwischen Vater und Sohn. Ronnie S. glaubte, dass Carlina F. ihn endgültig als Gefahr sieht und ihren Sohn entsprechend negativ beeinflusst. Jamie, so bestätigt später ein angefordertes Gutachten,
leide unter einem Loyalitätskonflikt und glau­be, seine Mutter beschützen zu müssen. Ronnie S.s Versuche, mit dem Kind in Kon­takt zu treten, liefen über dessen Vormund. 2013 riet ihm dieser ähnlich wie die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), den Kon­takt mit dem Jungen nicht zu forcieren und ab­ zuwarten, bis eine Besserung eintrete. Diesen Ratschlag beherzigte der Vater, um den Jungen zu entlasten, wie er sagt. Diese Zurückhaltung wurde ihm später negativ ausgelegt. «Zuerst brechen Sie den Kontakt ab, und jetzt wollen Sie
Jamie wieder sehen», so lautete der Vorwurf eines Sozialarbeiters. Um den Gründen für die Ablehnung des Kindes auf die Spur zu gehen, regte der Vater nun eine Familientherapie an, die allerdings von behördlicher Seite organi­siert werden muss. Ob, wann und wo ein solches Coaching stattfinden könnte, ist bis heute un­klar. Der Ratschlag der KESB Hinwil an den Vater lautet, er solle zuerst selbst ein Coaching bei einem Therapeuten durchführen. Gegenüber der Mutter wurde die Kindes­ und Erwachsenenschutzbehörde erst wieder im Frühling 2014 tätig, als eine anonyme Gefähr­ dungsmeldung einging: Die Mutter schlafe während des Kochens ein, habe verschiedentlich Suizid absichten geäussert und kümmere sich unter dem gelegentlichen Einfluss von Drogen nur unzureichend um den Knaben. Nach unzähligen Versuchen des Vormun­des, mit Carlina F. in Kontakt zu treten, stritt diese alles ab. Auf die Interventionen der KESB reagierte sie nicht, und den mehr maligen Auf­forderungen, einem Drogentest nachzukom­men, verweigerte sie sich erneut. Die prekäre Situation endete schliesslich im Obhutsentzug, worauf Jamie in einem Schulheim unterge­bracht wurde. Bereits seit langen regte die Vor­mundschaftsbehörde die Prüfung an, ob Ron­nie S. die Voraussetzungen zur Ausübung der elterlichen Obhut erfülle. Diese Abklärungen fanden nie statt, und sein eigener Antrag in die­ser Sache liegt weiterhin unbehandelt beim Amt. Marta Friedrich, Präsidentin der KESB Hinwil, kommentiert den Fall nicht, fügt aber an, dass es auch mit intensiver Unterstützung, Begleitung und vielen Anordnungen nicht im­mer gelinge, eine zufriedenstellende Lösung zu finden – zumindest nicht für alle Beteiligten. In der Zwischenzeit ist auch das mütterliche Besuchsrecht sistiert, und Jamie verbringt die Wochenenden bei «fremden Leuten», wie der Vater die Gast­Pflegefamilie nennt. Auf Wunsch der Wohngruppenleiterin verzichtete Ronnie S. zuerst freiwillig auf sein Besuchs­recht, danach wurde er mit dem Vorwurf kon­frontiert, anstatt Zeit mit seinem Sohn zu ver­bringen, habe er mit einem anderen Kind in einem Fotoalbum geblättert. Er sieht darin einen von vielen Versuchen, seine Position als kämpfender Vater zu schwächen. In seiner Verzweiflung schreibt er Jamie einen Brief: «Was auch geschieht, ich bin im­mer für Dich da und werde Dich immer lie­ben.» Die Antwort des Zwölfjährigen kam postwendend: «Ich will nichts mehr mit Dir zu tun haben.» Der komplette Kontakt­abbruch zu seinem Sohn macht Ronnie S. fas­sungslos, auch weil der Junge seinen Entscheid nicht begründet habe. Was dem Vater bleibt, sind rund 200 amtliche Schreiben von Kinderschutzbehörden, Psycho­logen, Mediatoren, Sozialarbeitern und Anwäl­ten. In Klarsichtmäppchen verpackt und alpha­betisch abgelegt, füllen sie einen dicken roten Ordner mit dem Titel «Jamie 2001–2014»: Die Chronologie seines Kampfes ist für Ronnie S. auch der Beweis seiner väterlichen Liebe, den er seinem Sohn eines Tages vorlegen kann.

* Namen sind der Redaktion bekannt



Weltwoche.ch


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