«Papa, wo bist du?»

Ein Vater, der seine Kinder hälftig betreut hat, wird aufgrund eines zweifelhaften Gutachtens Stück für Stück aus der Familie gedrängt. Je mehr er sich wehrt, desto mehr mauern die Behörden. Ein klassischer Fall, sagen Experten.

Von Michèle Binswanger

Fünf Monate hat der Vater seine Kinder nicht mehr gesehen, es ist Dezember 2018, er steht vor dem Treffpunkt in Dornach SO. Hier muss er den Adventskalender und die Weihnachtsgeschenke für die Kinder abgeben.Treffen darf er sie nicht, ein Kontaktverbot untersagt ihm, sich ihnen zu nähern, sie anzurufen oder ihnen Grüsse auszurichten.In den letzten zwei Jahren hat er sie insgesamt 24 Stunden sehen dürfen, immer in Begleitung und an einem fremden Ort. Obschon er ihnen nie ein Haar gekrümmt, sie bis zur Trennung sogar zu 50 Prozent betreut hat, ihm beste Vaterqualitäten zugestanden werden, selbst von der Gegenpartei. Obschon seine Kinder ihn vermissen und öfter sehen möchten. Immer wieder zeichnen sie Bilder, die ihre Sehnsucht ausdrücken. Sie fragen: «Papa, wo bist du?» Es ist ein komplexer Fall, er füllt viereinhalb Bundesordner an Akten. Wie immer bei Besuchsrechtsstreitigkeiten, sieht sich eine Seite ungerecht behandelt. Und wie oft in solchen Fällen, steht im Zentrum ein zweifelhaftes Gutachten, an das die Behörden sich sklavisch halten – auch, wenn es Ungerechtigkeiten schafft.

Die Kesb übernimmt

Das Drama begann im Sommer 2013. Nach zehn Jahren Partnerschaft teilte die Kindsmutter für den Vater überraschend mit, sie trenne sich von ihm. Ohne Absprache zog sie mit beiden Kindern von Dornach zu ihren Eltern. Der Sohn war damals fünfeinhalb, die Tochter knapp ein Jahr alt. Die Kesb am neuen Wohnort stellte die Kinder unter die Obhut der Mutter, die auch gleich das alleinige Sorgerecht für den Sohn verlangte. Das lehnte die Behörde ab und erteilte dem Vater ein eingeschränktes Besuchsrecht. Im Januar 2014 kommt es zur Meinungsverschiedenheit zwischen dem getrennten Paar. Die Mutter verlangt, künftig müsse zwingend eine Fachperson die Besuche begleiten, damit der Vater die Kinder nicht negativ beeinflusse. Eine Firma wird engagiert, doch diese sistiert ihren Auftrag nach zwei Monaten. Da die Mutter sich weigert, dem Vater die Kinder unbegleitet auszuhändigen, sieht er sie die folgenden sechs Monate gar nicht. Erst als sie mit den Kindern zurück nach Dornach zieht und die Kesb Thal-Gäu/Dorneck-Thierstein den Fall übernimmt, kommt es Ende Oktober zum Wiedersehen. Der Sohn ist mittlerweile sechs einhalb Jahre alt, die Tochter zwei. Mit dem Fall ist zunächst das Behördenmitglied G. betraut. Frau G. schlägt eine Mediation vor, die Eltern sollen eine gemeinsame Lösung finden. Die Mutter aber, eine anthroposophisch orientierte Psychiaterin, lehnt jegliche Zusammenarbeit mit dem Vater ab: Die Konflikte seien unüberbrückbar. Anstatt die Meinungsverschiedenheiten zu klären, gibt die Kesb auf Anraten der Beiständin ein Gutachten in Auftrag. Es soll die Ausgestaltung des Besuchsrechts sowie die Erziehungsfähigkeit beider Elternteile klären. Mandatiert wird der Chef des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Solothurner Spitäler AG. Dieses Gutachten wird in den kommenden Jahren wegweisend für alle behördlichen Entscheide sein, es liegt dieser Zeitung vor. Für den Vater ist es vernichtend: Er unterscheide nicht zwischen Eltern- und Kindsebene, habe sich in den Konflikt verbissen und bringe die Kinder mit seinem Verhalten in einen Loyalitätskonflikt. Das Gutachten steht laut dem Kindsvater unter dem Verdacht der Befangenheit: Die Anwältin der Kindsmutter war bei Erteilung des Auftrags Vizepräsidentin des Verwaltungsrats der Solothurner Spitäler AG. Eine Aktennotiz der Kesb belegt, dass die Personalien der betroffenen Kinder dem Gutachter bereits vor der Auftragserteilung bekannt sind. Dazu die Kesb: «Der Vater hätte gleich nach der Ernennung des Gutachters seine Kritik vorbringe nmüssen. Gleiches gilt für den Vorwurf,der Gutachter hätte die Personalien der Kinder bereits gekannt und wäre vorbefasst gewesen.»

Das Gutachten ist wegweisend für alle Entscheide. Für den Vater ist es vernichtend.

Das Gutachten gibt Prognosen für die weitere Entwicklung des Falls ab. Bei einem positiven Verlauf werde der Vater eine Therapie beginnen, um «seinen eigenen Anteil an der Trennung zu reflektieren», heisst es. Gelänge ihm das nicht, sei es für die Kinder das Beste, die Besuche auf vierteljährliche «Erinnerungskontakte» zurückzufahren. Dazu nimmt der betreffende Gutachter wie folgt Stellung: «Ich erstelle Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen. Die Interpretation ist Aufgabe des Gerichts.» In einer Kesb-internen Mail wird das Gutachten zunächst als «mittlere Katastrophe» taxiert. Trotz allem können die Eltern sich aber zunächst in einer gemeinsamen Sitzung mit Behördenmitglied G. auf ein 14-tägliches Besuchsrecht mit Übernachtung einigen. Es ist eine der wenigen Sitzungen, in denen die Eltern gemeinsam befragt werden und auch eine gemeinsame Lösung finden. Doch auf Drängen der Anwältin der Mutter wird G. im Laufe des Sommers vom Fall abgezogen, wegen «Befangenheit». Worin die Befangenheit bestehen soll, wird dem Vater nie mitgeteilt. Künftig wird er mit stets wechselnden Zuständigen bei der Kesb zu tun haben. Anhörungen der Eltern finden ab diesem Zeitpunkt nur noch getrennt statt. Im Dezember 2015 spricht das Verwaltungsgericht der Mutter das alleinige Sorgerecht für den Sohn zu – gestützt auf das umstrittene Gutachten.

Drei Stunden pro Monat

Noch ein knappes Jahr darf der Vater die Kinder regelmässig sehen, doch im November 2016 meldet die Beiständin, der Kindsvater sei unfreundlich zu ihr gewesen, habe ihr die Hand nicht gegeben, künftig werde sie keine Besuche mehr begleiten. Die Anwältin der Mutter ergreift die Gelegenheit und beantragt, auch das Besuchsrecht superprovisorisch zu sistieren. Es gelingt ihr – dank des Gutachtens. Auf ihr Drängen verzichtet die Kesb auch darauf, den Sohn dazu anzuhören. Er werde vermutlich sagen, er wolle seinen Vater sehen, doch das würde nur den Loyalitätskonflikt verstärken, so die Begründung. Die Kesb tut wie geheissen. Nun darf der Kindsvater seine Kinder nur noch drei Stunden pro Monat sehen. Aus Sorge um seine Kinder kämpft der Vater weiter; er hat keine andere Wahl, als formal zu intervenieren. Doch das hilft nicht, im Gegenteil. Eine Person, die am Verfahren beteiligt war, sagt dieser Zeitung: «Wenn jemand die Behörden mit Schreiben bombardiert, gilt er schnell als Querulant. Das führt dazu, dass man seine Eingaben einfach ablehnt – ohne die Situation überhaupt anzuschauen.» Zudem sei die Anwältin eine bekannte Persönlichkeit in Solothurn: «Man kennt sich in den Ämtern und Gerichten, natürlich spielen auch Sympathien und Antipathien.» Das bestätigt auch Anna Murphy, eine auf Familienrecht spezialisierte Anwältin, die Klienten zum Umgang mit Behörden berät: «Ein klassischer Fall, der kaum mehr positiv zu beeinflussen ist. Das ist wie ein Spinnennetz: Je mehr man strampelt, desto mehr verstrickt man sich. Je fordernder man auftritt, desto mehr gilt man als Querulant.» Zu Weihnachten 2016 darf der Vater seine Kinder nicht sehen. Seine Beschwerde beim Verwaltungsgericht wird abgeschmettert. Im Juli 2017 versucht er erneut, sein Besuchsrecht zurück zu erhalten. Die neu zuständige Person beider Kesb gibt ihm zu verstehen, sie glaube, die Kesb sei in diesem Fall zu weit gegangen, sie werde sich für ihn einsetzen. Doch nichts geschieht. Ende 2017 verhandelt das Bundesverwaltungsgericht seinen Fall und entscheidet gegen ihn – wiederum gestützt auf dasselbe Gutachten. Eine Anfrage um Stellungnahme wies die Anwältin der Mutter im Namen ihrer Klientin ab: «Ich ziehe es vor, meine Stellungnahme gegenüber dem Gericht statt gegenüber der Presse abzugeben. »Dafür gibt es eine ganze Reihe von Stellungnahmen unabhängiger Fachleute. Der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Edouard Urech schreibt, das Gutachten missachte das Wohlergehen der Kinder und ihr Recht auf eine Beziehung zu beiden Eltern. Die Rechtspsychologin Vera Kling kritisiert die Behörden: «Das Gutachten ist weder objektiv noch neutral. Die fachlichen Mängel reichen von einseitiger Parteinahme bis hin zu grotesk anmutenden Empfehlungen.» Die betroffene Kesb schreibt dazu in ihrer Stellungnahme: «Aus rechtsstaatlicher Sicht würde sich nur etwas ändern, wenn neue, valide Erkenntnisse, die verfahrensrechtlich korrekt erstellt wurden, vorliegen würden. Solche, namentlich Gegengutachten, die nach Verfahrensrecht korrekt erstellt wurden, liegen jedoch nicht vor.» Zu den Kritikern gehört auch Annelies Münch, Kinderrechtsexpertin und Mitglied der Fachkommission Familie, Kind, Jugend des Kantons Solothurn. Sie wandte sich an den Leiter der Aufsichtsbehörde und verschiedene involvierte Kesb-Mitglieder, appellierte an die in der Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Kinderrechte. Sie sagt, der Doktortitel der Mutter könnte ein Grund sein, warum man sie nicht als Betroffene, sondern als massgebende Fachperson behandelte. Die Behörden stellten sich taub. Im Jahr 2018 finden noch zwei Besuche an einer Fremdadresse statt. Mittlerweile hat die Kesb auch dieses spärliche Besuchsrecht entzogen und durch quartalsweise Erinnerungskontakte ersetzt. Die Kinder sind heute elf und sechseinhalb Jahre alt.


Tagesanzeiger.ch


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Veröffentlicht unter Allgemein, Entfremdung, Gesetz, KESB - Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Natur, Politik, Staat, Widerstand