Sollten Gerichte anordnen, dass an PAS leidende Kinder den entfremdeten Elternteil besuchen bzw. bei ihm wohnen?*
Eine Verlaufsstudie von Richard A. Gardner, M. D.*
Dieser Artikel erschien erstmals in “American Journal of Forensic Psychology“, Band 19, Nummer 3, 2001.
Die Originalarbeit: “Should courts order PAS-children to visit/reside with the alienated parent? A Follow-up Study”
Aus dem Amerikanischen von: G. H. Broxton-Price, herausgegeben von: Wilfrid von Boch-Galhau
VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung, ISBN 3-86135-117-X (2002).
Die Frage, ob unter dem Syndrom der Elternentfremdung leidende Kinder auf Anordnung des Gerichtes beim entfremdeten Elternteil wohnen bzw. diesen besuchen sollten, ist ein gravierender Streitpunkt unter Juristen und Fachleuten für psychische Gesundheit. Der nachfolgende Artikel beschreibt 99 PAS-Fälle, die der Autor unmittelbar mitverfolgt hat – Fälle, bei denen er zu dem Schluss kam, dass das Gericht den Umgang mit dem entfremdeten Elternteil oder den Hauptwohnsitz des Kindes bei diesem anordnen sollte. Die Ergebnisse bei den Fällen, in denen diese Anordnungen durchgesetzt wurden (N=22), werden nachfolgend mit den Fällen verglichen, bei denen dieser Empfehlung nicht entsprochen wurde (N=77). Hier zunächst die Definition des Syndroms der Elternentfremdung, wie ich sie seit meiner ersten Veröffentlichung zu dieser Störung im Jahre 1985 verwendet habe:
Das Syndrom der Elternentfremdung (Parental Alienation Syndrome – PAS) ist eine Störung, die vor allem im Zusammenhang mit Sorgerechtsstreitigkeiten auftritt. Die Störung äussert sich hauptsächlich in einer Ablehnungshaltung des Kindes gegenüber einem Elternteil, die in keiner Weise gerechtfertigt ist. Diese Haltung entsteht aus dem Zusammenwirken von Indoktrinierung durch einen programmierenden (eine Gehirnwäsche betreibenden) Elternteil und dem eigenen Beitrag des Kindes zur Verunglimpfung des zum Feindbild gewordenen anderen Elternteils. Im Fall von echtem Kindesmissbrauch und/oder Vernachlässigung kann die Feindseligkeit des Kindes begründet sein; in diesem Fall darf das Parental Alienation Syndrome als Erklärung für die feindliche Haltung des Kindes nicht herangezogen werden.
Es gibt 8 Hauptsymptome und 3 Typen von PAS, die in Tabelle 1 aufgeführt sind. Es ist wichtig, zu beachten, dass die Diagnose über den Schweregrad des PAS anhand des kindlichen Verhaltens gestellt wird und nicht etwa aufgrund des Ausmasses der Indoktrinierung, der das Kind ausgesetzt gewesen sein mag. Die indoktrinierenden Eltern können ebenfalls inverschiedene Schweregrade von leicht, mittelstark bis schwer, eingeteilt werden; hier aber sind die Übergänge fliessender als bei einem Kind. Ausserdem ist es möglich, dass Eltern, obwohl sie schwerwiegend entfremden, nur insoweit “erfolgreich” sind, als sie bei ihren Kindern lediglich ein leichtes oder mittelstarkes Entfremdungssyndrom hervorrufen, da hier eine starke, gesunde Bindung mit dem entfremdeten Elternteil der Entwicklung eines ausgeprägten PAS beim betroffenen Kind entgegenwirkt. PAS entsteht im Zusammenhang mit Sorgerechtsstreitigkeiten und deren Schlichtung bringt, von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen, die Einschaltung der Gerichte mit sich. Die Empfehlungen von Fachleuten für psychische Gesundheit für den Umgang mit PAS-Kindern werden oft erst auf richterliche Anordnung hin befolgt; dabei handelt es sich um gerichtlich angeordnete Therapien, gerichtlich verfügten Umgang mit dem entfremdeten Elternteil, die richterliche Anordnung von Sorgerechtsänderungen und auch um gerichtliche Sanktionen gegen den entfremdenden Elternteil. Als mögliche Sanktionen stehen einstweilige Anordnungen, Geldstrafen, Ableistung von Sozialdienst, Bewährung, Hausarrest und sogar vorübergehende Inhaftierung zur Verfügung. PAS ist ein herausragendes Beispiel für eine Störung, bei der Fachleute für psychische Gesundheit und Juristen zusammenarbeiten müssen, wenn den Kindern geholfen werden soll.
Wer wurde zur Gewinnung von Verlaufsdaten angesprochen?
Bei allen Personen, die wegen Verlaufsinformationen angesprochen wurden, handelte es sich um den entfremdeten Elternteil. Es waren also die Menschen, die Opfer einer PAS-Indoktrinierung geworden waren und die am meisten gelitten hatten. Ich ging davon aus, dass sie am aufgeschlossensten für meine Fragen über ihre Erfahrungen waren. Diese Annahme stellte sich als zutreffend heraus. Ich setzte mich nicht mit den entfremdenden Elternteilen in Verbindung, da ich (zu Recht, wie ich meine) davon ausging, dass diese nicht zur uneingeschränkten Zusammenarbeit mit mir im Hinblick auf wahrheitsgemässe Informationen bereit sein würden. Auch ging ich nicht davon aus, dass sie bereit wären, am Telefon mit mir zu sprechen, und mir geeignete Daten zu liefern. Auf dieses Thema werde ich noch näher im Abschnitt “Einschränkungen der Studie” eingehen.
Welche Fragen wurden gestellt?
Im Laufe der Umfrage stellte ich dreierlei Fragen, wenn auch nicht unbedingt in der gleichen Reihenfolge:
1) Sind Ihnen die Kinder noch immer entfremdet?
2) Beschreiben Sie den Grad der Entfremdung (hier versuchte ich festzustellen, ob die Entfremdung in die Kategorie schwach, mittelstark oder schwer einzuordnen war).
3) Wie lange ist (sind) das (die) Kind(er) schon entfremdet?
Ergebnisse:
Für die abschliessende Statistiktabelle (Tab 3) wurden die in jedem Einzelfall gewonnenen Daten in Ja- und Nein-Antworten auf die beiden Fragen eingeteilt:
1) Sorgerechtsänderung und/oder Einschränkung des Umgangs mit dem Entfremder (Ja oder Nein).
2) Besserung oder Verschwinden der PAS-Symptome (Ja oder Nein).
In diesem Bericht werden die Informationen zu klinischen Details einzelner Fälle nur in begrenztem Umfang wiedergegeben. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die PAS-Kategorie, meine Empfehlungen, den Gerichtsbeschluss und auf die Auswirkungen der Gerichtsentscheidung auf die Kinder. Jede Fallnummer bezieht sich auf ein PAS-Kind. Wenn es in einer Familie mehr als ein PAS-Kind gab, so erhielt jedes Kind seine eigene Fallnummer. Diese Aufteilung war notwendig, weil es manchmal bei verschiedenen Kindern aus derselben Familie zu unterschiedlichen Ergebnissen kam. Diese Studie stellt die Untersuchungsergebnisse von 99 PAS-Fällen aus 52 Familien vor.