“Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat” ist ein 1849 erstmals abgedruckter Essay von Henry David Thoreau. Der Originaltitel lautete zunächst The Resistance to Civil Government, in der ersten Werkausgabe wurde daraus Civil Disobedience und später On the Duty of Civil Disobedience.
Verfasst in den Zeiten der amerikanischen Eroberungs- und Sklavenpolitik fordert Thoreaus Essay auf, sich dem positiven Recht des Staates nur zu beugen, wenn es mit der persönlichen moralischen Wertung übereinstimmt. Er propagiert ein Gewissensrecht der Moral gegen Ungerechtigkeiten in der Demokratie mit Aussagen wie:
“Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach’ dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten. Jedenfalls muss ich zusehen, dass ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, das ich verdamme.”
(Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, 1849)
Auch klagt er die Beamtenschaft an, welche sich dem Staat treu hingebe, ohne auf das eigene Herz zu hören.
Ein weiterer Kritikpunkt Thoreaus ist das Mehrheitsprinzip in Demokratien, “eine unqualifizierte Mehrheit ungerechte Rechte beschließen kann und ein Mehrheitsbeschluss keines Falls bedeuten, dass die beste Entscheidung getroffen wurde”. Er fordert ein individuelles Gewissensrecht, statt unkritisch Mehrheitsentscheidungen zu folgen.
Diese Aufrufe zum zivilen Ungehorsam gegen den Staat aus Gewissensgründen inspirierten die Ideen zum gewaltfreien Widerstand von Gandhi und Martin Luther King. Auch die französische Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg wurde von dieser Lektüre inspiriert.
Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
Henry David Thoreau
1849
“Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: “Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert”; …”Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert”; und wenn die Menschen einmal reif dafür sein werden, wird dies die Form ihrer Regierungsein.”
(Seite 7)
“Ich will sachlich reden, und nicht wie die Leute, die sich überhaupt gegen jede Regierung erklären. Ich sage nicht: von jetzt an keine Regierung mehr, sondern von jetzt an eine bessere Regierung.”
(Seite 8)
“Der praktische Grund, warum die Mehrheit regieren und für längere Zeit an der Regierung bleiben darf, wenn das Volk die Macht hat, ist schließlich nicht, dass die Mehrheit das Recht auf ihrer Seite hat, auch nicht, dass es der Minderheit gegenüber fair ist, sondern ganz einfach, dass sie physisch am stärksten ist.”
(Seite 8)
“Ich finde, wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen. Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint.”
(Seite 9)
“Die Mehrzahl der Menschen dient also dem Staat mit ihren Körpern nicht als Menschen, sondern als Maschinen. Sie bilden das stehende Heer und die Miliz, die Gefängniswärter, die Konstabler, Gendarmen etc. In den meisten Fällen bleibt kein Raum mehr für Urteil oder moralisches Gefühl.”
(Seite 10)
“Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen Krieg und Sklaverei sind und die doch praktisch nichts unternehmen, um sie zu beseitigen; (…) Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt (…). Sie warten – wohlsituiert -, dass andere den Übelstand abstellen, damit sie nicht mehr daran Anstoß nehmen müssen.”
(Seite 13)
“Ein kluger Mensch wird die Frage der Gerechtigkeit nicht dem Zufall überlassen, er wird auch nicht wollen, dass sie durch die Macht der Mehrheit wirksam werde. Denn in den Handlungen von Menschenmassen ist die Tugend selten zu Hause.”
(Seite 14)
“Der Mensch ist nicht unbedingt verpflichtet, sich der Austilgung des Unrechts zu widmen, und sei es noch so monströs. Er kann sich auch anderen Angelegenheiten mit Anstand widmen; aber zum mindesten ist es seine Pflicht, sich nicht mit dem Unrecht einzulassen, und wenn er schon keinen Gedanken daran wenden will, es och wenigstens nicht praktisch zu unterstützen.”
(Seite 15)
“Wie kann sich jemand nur damit zufrieden geben, dass er eine Meinung hat! Was für eine Genugtuung liegt darin, wenn es seine Meinung ist, dass er bedrückt sei? Wenn dein Nachbar dich auch nur um einen Dollar betrügt, dann genügt es dir nicht, zu wissen, dass du betrogen worden bist, auch nicht, ihm eine Bittschrift zuzustellen, er möge dir die Schuld zurückzahlen; vielmehr wirst du wirksame Schritte unternehmen, um sofort die ganze Summe zurückzubekommen und die Gewähr, dass du nicht wieder betrogen werden wirst.”
(Seite 16)
“Wer nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; dies ist das Wesen des Revolutionären, es gibt sich nicht mit vergangenen Zuständen zufrieden. Es trennt nicht nur Staaten und Kirchen, es spaltet Familien. Ja, es spaltet den Einzelmenschen, indem es das Teuflische in ihm von dem Göttlichen scheidet.”
(Seite 16/17)
“Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen.”
(Seite 20)
“Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt.”
(Seite 20)
“Ich habe sechs Jahre keine Wahlsteuer bezahlt. Einmal wurde ich deshalb für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt. (…) Da sie mich nicht fassen konnten, beschlossen sie, meinen Körper zu bestrafen;”
(Seite 24)
“Mit dem inneren Wesen, sei es intellektuell oder moralisch, kann der Staat sich also niemals auseinandersetzen, sonder nur mit dem Körper, mit den Sinnen. Er verfügt weder über größere Vernunft noch Ehrlichkeit, sondern nur über größere physische Gewalt.”
(Seite 25)
“Ich wurde ins Gefängnis gesteckt, als ich gerade auf dem Weg zum Schuster war, um eine geflickten Schuh dort abzuholen. Als ich am nächsten Morgen herauskam, setzte ich diesen Gang fort, zog meine geflickten Schuh an und stieß zu einer Gruppe von Heidelbeersammlern, die schon darauf warteten, von mir angeführt zu werden.”
(Seite 28)
“Ich möchte mit keinem Menschen und keinem Land Streit anfangen. Ich will keine Haarspalterei betreiben, nicht übergenau sein oder mich für besser als meine Nachbarn halten. Ich suche ja gerade nach einer Ausrede, um mich den Gesetzen des Landes anzupassen.”
(Seite 30)
“Die rechtmäßige Regierungsgewalt (…) ist immer unvollständig: um nämlich unbedingt gerecht zu sein, muss sie Vollmacht und Zustimmung der Regierten haben. Sie kann kein umfassendes Recht über mich und mein Eigentum haben, sondern nur so weit, wie ich zustimme.”
(Seite 34)
“Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein, und der das Individuum achtungsvoll als Nachbarn behandelt; einen Staat, der es nicht für unvereinbar mit seiner Stellung hielte, wenn einige ihm fernblieben, sich nicht mit ihm einließen und nicht von ihm einbezogen würden, solange sie nur alle nachbarlichen, mitmenschlichen Pflichten erfüllten. Ein Staat, der solche Früchte trüge, und sie fallen ließe, sobald sie reif sind, würde den Weg für einen vollkommeneren und noch ruhmreicheren Staat freigeben – einen Staat, den ich mir auch vorstellen kann, den ich bisher aber noch nirgends gesehen habe.”
(Seite 35)