«Eine Fremdplatzierung fällt die Behörde nicht einfach so»

Im Fall der in Sisseln von den Eltern «entführten» Kinder stellen sich einige Fragen.

Es ist ein spezieller Fall von Kindesentführung, der sich am Wochenende im Kanton Aargau ereignet hat. Für einmal waren es die Eltern selber, die sich abgesprochen und gemeinsam ihre Kinder aus dem Heim genommen haben, in dem diese platziert worden waren.

Ein 46-jähriger Schweizer aus Sisseln AG und seine 29-jährige philippinischstämmige Frau haben ihre beiden fremdplatzierten Töchter (2 und 6 Jahre alt) am Samstagabend nicht wie vereinbart ins Heim zurückgebracht. Seither sind die Frau und die Töchter verschwunden, der Mann wurde gestern an seinem Wohnort in Sisseln abgeholt. Nun wird wegen «Entziehen von Minderjährigen» gegen die Eltern ermittelt – ein Strafgesetzartikel, der erst letztes Jahr angepasst wurde. Neu kann auch eine Behörde den Strafantrag stellen, wenn die Kinder widerrechtlich aus dem Heim genommen werden, in dem sie platziert waren. So geschah es im Aargauer Fall: Das Familiengericht Laufenburg, das im September 2014 dem Ehepaar das Obhutsrecht entzogen hatte, stellte gestern bei der Staatsanwaltschaft in Solothurn einen Strafantrag. Solothurn ist zuständig, weil die Kinder im solothurnischen Trimbach platziert worden waren.

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Eltern und klärt ab, wo sich Mutter und Kinder befinden. Den Vater hat sie gestern einvernommen. Was mit ihm nun geschieht, ob er in Untersuchungshaft genommen wird oder nach Hause gehen kann, war nicht zu erfahren. Die Kinder und die Mutter seien am Samstag auf die Philippinen geflogen und gut angekommen, berichtete der Vater mehreren Medien und via Facebook.

Zudem machte er den Kindesschutzbehörden Vorwürfe. Diese seien «unprofessionell und unmenschlich», sagte er zu «20 Minuten online». Die Kinder seien ihm und seiner Frau wegen «Kleinigkeiten» weggenommen worden, «Mentalitätsunterschieden». Auf den Philippinen schaue die ganze Verwandtschaft zu den Kindern, seine Frau sei mit dem hiesigen System überfordert gewesen. Eine Nachbarin pflichtete ihm bei: Sie kritisierte auf Tele M1 das «System», das sich verbessern und vermehrt mit den Eltern zusammenarbeiten müsse, statt ihnen die Kinder wegzunehmen.

Muss sich das System verbessern? Kindesschutzexperte Christoph Häfeli sieht es anders. «Die Hürden für Fremdplatzierungen sind sehr hoch», sagt er. Das zeigten die Zahlen: 2012 sind 1115 Fremdplatzierungen verfügt worden bei insgesamt 16 868 Kindesschutzmassnahmen. In Normalfall geschehe eine Fremdplatzierung auch nicht sofort, sondern nach langen Abklärungen inklusive Beratung und Mediation. Nur in Ausnahmefällen, wenn das Kindeswohl akut gefährdet sei, würden Kinder den Eltern sofort weggenommen.

Was heisst Vernachlässigung?

Trotzdem: «Kindeswohlgefährdung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und schwierig zu definieren», sagt Häfeli. Während die Kriterien psychische und physische Misshandlung, sexuelle Übergriffe oder Autonomiekonflikte noch einfacher zuzuordnen seien, werde es bei der Vernachlässigung schwieriger. Wo beginnt Vernachlässigung? Medien zitieren Nachbarn der Familie aus Sisseln, die erzählen, die Kinder seien oft unbeaufsichtigt gewesen. Vernachlässigung bedeute je nach Alter des Kindes etwas anderes, sagt Häfeli: Bei einem «kleineren Schulkind» etwa, wenn es morgens allein aufstehen und zur Schule gehen müsse und mittags niemand da sei. Bei Säuglingen und Kleinkindern sei es Vernachlässigung, wenn sie zwei Stunden allein seien.

Auch Jürg Caflisch, ehemaliger Leiter der Jugend- und Familienberatung Dietikon und SP-Grossrat im Aargau, verteidigt die Behörden. «Eine Fremdplatzierung fällt die Behörde nicht einfach so.» Bei einer ersten Gefährdungsmeldung bleibe es in der Regel bei einem Gesprächs, man gebe Tipps und Anweisungen. Anders bei wiederholten Gefährdungsmeldungen: «Alarmzeichen sind tätliche Auseinandersetzungen, allenfalls mit Verletzten und begleitet von Polizeieinsätzen, sowie Drogen oder wenn Kinder wiederholt unbeaufsichtigt sind.» Die Kindesschutzbehörde eröffne den Eltern eine Massnahme persönlich und erkläre sie, sagt Caflisch. «Die Behörde sagt den Eltern auch, was es braucht, um die Massnahmen rückgängig zu machen.»

Bei den Rekursmöglichkeiten sieht die Aargauer SP-Nationalrätin Yvonne Feri Handlungsbedarf: «Es bräuchte eine Art niederschwellig zugängliche Ombudsstelle für Betroffene», sagt sie. Zwar können diese heute schon rekurrieren, im Kanton Aargau beim Obergericht, im Kanton Zürich beim Bezirksrat. Doch oft seien die Leute bezüglich ihrer rechtlichen Möglichkeiten schlecht bewandert und scheuten den Rechtsweg. So haben auch die Eltern im aktuellen Fall den Gerichtsentscheid akzeptiert – obwohl sie mit der Massnahme offensichtlich nicht einverstanden waren.

Pässe blieben bei der Familie

Stattdessen haben sie einen anderen Weg gewählt. Der Vater erzählte gestern in Interviews, wie er die Behörden in die Irre geführt habe mit dem Wohnwagen, den er im Raum Zürich an einer Tankstelle stehen liess. Auch hätten sie das Flugticket retour gelöst, damit niemand Verdacht schöpfe. Die Reisepässe schliesslich habe die Familie immer noch besessen: «Sie hatten sie uns damals wegnehmen wollen, aber sie haben es vergessen», sagte er zu «20 Minuten».

Ein Fehler? Er könne das nicht beurteilen, sagt Häfeli. Nur so viel: «Den Pass nimmt man einer Familie ab, wenn die Gefahr von Kindesentführung besteht. Dies ist vor allem bei binationalen Ehen der Fall und wenn Vater und Mutter im Clinch sind.» Beides trifft auf den Aargauer Fall zu. Doch solche Entführungsfälle seien äusserst selten, sagt Häfeli. Er habe in zehn Jahren Sozialarbeit keinen vergleichbaren Fall erlebt.

Sozialarbeiter Caflisch sagt, die Pässe würden den Familien sehr selten entzogen. «Das ist ein Misstrauensvotum, und man will ja gegenseitiges Vertrauen fördern.» Die Aargauer Gerichte sagten gestern nichts dazu. (baz.ch/Newsnet)


Bazonline.ch


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