Ich will dich nicht mehr sehen! – Entfremdung als Strategie des Kindes im Loyalitätskonflikt

Trennen sich die Eltern, zerbricht nicht nur die vertraute Familie, auch sieht sich das Kind nun mit Loyalitätsansprüchen von zwei Seiten konfrontiert. In den meisten Fällen stellt dies kein unüberwindbares Hindernis dar. Manchmal aber, erklärt Psychotherapeutin Liselotte Staub, bleibt dem Kind nur ein Ausweg aus dem Konflikt: die Allianz mit dem einen Elternteil und die Entfremdung vom anderen.

In der Beziehungstriade der Kernfamilie ist das emotional und existenziell abhängige Kind gezwungen, sich der Realität und den Wertvorstellungen seiner Eltern anzupassen und diese im Laufe der Entwicklung zu internalisieren. Wenn beide Eltern ähnliche Überzeugungen haben, die gleichen Anforderungen an das Kind stellen und sich gegenseitig unterstützen, fällt es dem Kind nicht schwer, sowohl der Mutter als auch dem Vater gegenüber loyal zu sein. Konflikte zwischen den Eltern kann es aushalten, solange es sich darauf verlassen kann, dass deren übergeordnete Erziehungsziele identisch sind und sie sich wieder vertragen werden. Durch die Trennung wird die Loyalität zwischen den Eltern gekündigt, was zwangsläufig auch Veränderungen in den anderen Beziehungen in der Triade mit sich zieht. Obwohl sich für das Kind die Beziehung zu seinen Eltern faktisch nicht verändert hat, ist es nun gezwungen, von einer Dreierbeziehung zu zwei Zweierbeziehungen überzugehen. Diese Herausforderung kann mit grossen Verunsicherungsgefühlen einhergehen und das Kind verwirren, insbesondere wenn feindselige Eltern vom Kind Loyalität fordern, ein Elternteil die Beziehung zum anderen emotional nicht toleriert oder diese sogar subtil sanktioniert.

Allianz als Lösung des Konflikts

Die Fähigkeit, mit Ambivalenzen umzugehen, ist bei Vorschulkindern noch nicht stark ausgeprägt. Auch bei älteren Kindern kann sie aufgrund emotionaler Belastungen oder heftiger Elternkonflikte unzureichend sein. Sie können diese Pattsituation dann nur ertragen, indem sie Bewältigungsstrategien entwickeln: Allianzbildung und bedingungslose Investition in die Zweierbeziehung mit demjenigen Elternteil, von dem sich das Kind abhängiger fühlt, kann als Ausdruck einer solchen Bewältigungsstrategie verstanden werden. Besonders ältere Kinder wählen in diesem Fall denjenigen Elternteil, den sie als Opfer oder als bedürftiger wahrnehmen. Die Strategie der Allianzbildung drängt sich in dem Masse auf, wie der begünstigte Elternteil diese bewusst forciert oder aber unbewusst unterstützt. Ist das Kind nicht bereit, die Zweierbeziehung zum getrennt lebenden Elternteil zu opfern, bleibt es im Loyalitätskonflikt gefangen. Werden Kinder in dieser unerträglichen Situation nicht entlastet, können sie Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Konzentrationsschwächen, depressive Verstimmungen oder Schlafstörungen entwickeln. Charakteristische Prädiktoren für eine Allianzbildung und Kontaktverweigerung – abgesehen von der Beziehungsgeschichte sind das Alter und die Konstitution des Kindes. Kinder in der Voradoleszenz sind am stärksten gefährdet, zwischen die Fronten ihrer zerstrittenen Eltern zu geraten. Die geistige und moralische Entwicklung erlaubt ihnen, den Loyalitätserwartungen ihrer Eltern zu entsprechen. Gleichzeitig sind rigide moralische Urteile über einen Elternteil typisch für dieses Alter, da die Fähigkeit zum abstrakten Denken und zur Berücksichtigung verschiedener Perspektiven noch nicht vollständig ausgebildet ist. Zudem sind Kinder in diesem Alter fähig, einen Zustand von Ärger aufrechtzuerhalten. Jüngere Kinder ohne negative Erfahrungen mit einem Elternteil sind selten in der Lage, sich vollständig entfremden zu lassen, es sei denn, sie haben ältere Geschwister, denen sie nacheifern oder von welchen sie unterdrückt werden.

Manipulation des Kindes aus Angst

Ein entfremdetes Kind wird definiert als ein Kind, das situationsunabhängig und über die Zeit hinweg unverständliche und objektiv nicht nachvollziehbare negative Gefühle wie zum Beispiel Ärger, Hass oder Furcht gegenüber einem Elternteil ausdrückt, sich von dessen Schlechtigkeit überzeugt gibt und ihn offenkundig ablehnt. Während das Kind am Anfang des Entfremdungsprozesses noch eine gewisse Ambivalenz zeigt, ist bei der vollzogenen Entfremdung der andere Elternteil als Persona non grata verinnerlicht. Diese Überzeugung ist zur neuen Realität geworden. Damit ist aber noch nichts über die Ursache dieser Entwicklung gesagt. Insbesondere im Hinblick auf therapeutische oder behördliche Massnahmen ist die Kenntnis des Hintergrunds jedoch von grosser Bedeutung. Man unterscheidet zwischen reaktiver und induzierter Entfremdung. Bei einer induzierten Entfremdung macht sich ein Elternteil den Loyalitätskonflikt des Kindes zunutze, indem er ihm Erlösung verspricht, wenn es sich im Kampf gegen den anderen Elternteil mit ihm verbindet. Eltern, die ihre Kinder gegen den anderen einstellen, handeln zuweilen aus Rache, aber primär aus der panischen Angst, auch die Kinder zu verlieren. Um dieser Gefahr zu entgehen, bilden sie zusammen mit diesen eine enge Koalition, nach dem Motto «wir gegen den Rest der Welt». Typische Strategien von entfremdenden Eltern sind Abwertung und realitätsverzerrende Negativdarstellung des anderen Elternteils, Umgangsboykott, Kontaktunterbrechung, gezielte Fehlinformationen, suggestive Beeinflussung und Vermittlung von Double-Bind-Botschaften. Beispielsweise vermittelt die Mutter dem Kind verbal, dass es zum Vater gehen soll, gleichzeitig nimmt das Kind ihren emotionalen Widerstand in ihrer bedrückten oder aggressiven Stimmung wahr. Diese hellt sich erst auf, wenn das Kind sich gegen den Besuch beim Vater ausspricht. Bei der sich entwickelnden starken und exklusiven Eltern-Kind-Bindung handelt es sich um eine pathogene Angstbindung. Die damit einhergehende Überbehütung, die im Gewand inniger Liebe, Besorgnis und Aufmerksamkeit für das Kind daherkommt, verbirgt nur unvollkommen die egoistische Komponente des ausschliesslichen Besitzanspruchs. Ein inhärenter Bestandteil der erfolgreich induzierten Entfremdung ist die Folie à deux, in die ein Elternteil das Kind verwickelt und zu der das Kind nach der Verinnerlichung des negativen Elternbilds selber beiträgt.

Entfremdung als Reaktion

Kinder können sich auch als Reaktion auf eine Geschichte von häuslicher Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung oder erzieherischem Fehlverhalten von einem Elternteil entfremden. Das Verhalten von reaktiv entfremdeten Kindern gleicht dem Verhalten von induziert entfremdeten Kindern insofern, als sie ebenfalls eine intensive Wut gegenüber dem misshandelnden Elternteil ausdrücken. Zusätzlich aber bekunden sie auch Angst vor diesem Elternteil. Bei einigen Kindern ist die reaktive Entfremdung das kumulative Resultat von wiederholt erlebten oder beobachteten Gewalttaten oder explosiven Ausbrüchen des Elternteils während oder nach der Ehe. Bei anderen Kindern ist die Entfremdung eine Reaktion auf schwere elterliche Unzulänglichkeiten. Diese Mängel beinhalten zum Beispiel konsistentes, unreifes und egozentrisches Verhalten, chronischer emotionaler Missbrauch des Kindes oder des anderen Elternteils, tabuisierte körperliche Gewalt, persönlichkeitsbedingte Frustrationsintoleranz, rigide und restriktive Erziehungsstile, aber auch psychische Störungen oder Suchtverhalten, welche sich auf die elterlichen Fähigkeiten und familiären Funktionen ausgewirkt hatten. In der Gutachtens- und Mediationspraxis zeigen sich am häufigsten Mischformen aus reaktiver und induzierter Entfremdung. Insbesondere wenn heftige Streitigkeiten der Eltern andauern, vermischen sich die Grenzen zwischen induzierter und reaktiver Entfremdung. Scheinbar überwundene reale Erfahrungen – wie etwa Gewalt oder andere Fehlverhalten des abgelehnten Elternteils – stellen eine Basis für die induzierte Entfremdung gegenüber dem «Täter» dar, wenn nach der elterlichen Trennung dieses Ereignis «reaktiviert» und für taktische Vorteile in Scheidungsstreitigkeiten vom manipulierenden Elternteil missbraucht wird.

Das Kind bezahlt mit der Identität

Unabhängig von den unterschiedlichen Ursachen für Kontaktwiderstände nach der elterlichen Trennung scheint es dem Kind auf den ersten Blick oft besser zu gehen, wenn es sich nicht mehr mit dem anderen Elternteil treffen und auseinandersetzen muss beziehungsweise wenn es «zur Ruhe kommen kann», wie einige Eltern es verlangen. Aber vorausgesetzt, das Kind war im Kontakt mit dem abgelehnten Elternteil keinen groben Integritätsverletzungen oder Missbrauchserfahrungen ausgesetzt, hat der Zusammenbruch der Zweierbeziehung zu einem Elternteil längerfristig die schwerwiegenderen Folgen als die reaktiven Verhaltensstörungen im Kindesalter. Den Preis für die Allianzbildung als pseudofunktionale Bewältigungsstrategie bezahlt das Kind: Um den Verrat am getrennt lebenden Elternteil und damit an einem Teil von sich selbst aufrechterhalten zu können, muss das Kind diesen sowohl emotional als auch kognitiv abspalten, um Schuld- und Schamgefühle von sich fernzuhalten. Auf diese Weise reduziert das Kind unbewusst die Komplexität der Situation und gewinnt vermeintlich wieder Kontrolle zurück. Abgesehen davon, dass eine Kontrolle, die nur mittels Spaltungsvorgängen hergestellt werden kann, eine hochpathologische Konfliktlösung ist, bedeutet die emotionale Kündigung der Beziehung zu einem Elternteil, sich um einen Teil seiner Identität zu bringen. Das Kind muss eine Seite von sich verleugnen, weil es sie als «schlecht» oder «böse» wahrnimmt. Dieser Spaltungsvorgang verbraucht viel psychische Energie und wirkt wie jeder Verdrängungsmechanismus nur unvollständig: Die Überzeugung, das Kind eines «schlechten» Menschen oder sogar eines «Monsters» zu sein, wird erlebens- und verhaltenswirksam und stellt ein grosses Entwicklungsrisiko in der Adoleszenz dar: Systematische Verwirrung in der Selbst- und Fremdwahrnehmung führt dazu, dass das Kind verlernt, den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen zu trauen. In der Folge müssen Schuld-, Scham- und Verlustgefühle abgespalten werden, was zu einer Selbstentfremdung führt. Identität, Individualität und Autonomie als wichtige Entwicklungsziele in der Adoleszenz können sich nicht ungestört entwickeln. Es resultiert eine negative Selbsteinschätzung, Selbstwertmangel, tiefe Unsicherheit und im schlimmsten Fall eine Persönlichkeitsstörung mit den lebenslang quälenden Fragen «Wer bin ich?», «Was denke ich?», «Was fühle ich wirklich?».

Negative Prognosen

Wenn im Verlauf der induzierten Entfremdung die Erwartungen an den «guten» Elternteil, dessentwegen man viel geopfert hat, ins Unermessliche steigen, kann es im besten Fall aufgrund von zwangsläufigen Enttäuschungen zu Schwierigkeiten in der Beziehung zum «guten» Elternteil kommen. Im schlechtesten Fall bleibt das Kind mit dem «guten» Elternteil symbiotisch verstrickt und wird sich nicht von diesem lösen können, um sich auch anderen Menschen zuzuwenden. Die Vorstellung, dass es im ersten, besten Fall zu einer Wiederannäherung zwischen dem abgelehnten Elternteil und dem Jugendlichen oder Erwachsenen kommt, ist jedoch eher Wunschdenken als Realität. Die klinische Erfahrung zeigt, dass sich diese heranwachsenden Kinder sehr wohl daran erinnern, wie sie sich damals den Wünschen des abgelehnten Elternteils nach Kontakt sowohl mündlich als auch schriftlich widersetzt oder diesen sogar zur Unperson erklärt haben. Schuldgefühle sind nicht selten dafür verantwortlich, wenn der Kontakt mit dem abgelehnten Elternteil später nicht wieder aufgenommen wird. Schliesslich muss der heranwachsende Jugendliche oder Erwachsene damit rechnen, dass auch der abgelehnte Elternteil seine Gründe hat, warum er im Erwachsenenalter seines Kindes keinen Wunsch mehr nach Kontakt verspürt beziehungsweise einen solchen ablehnt: Sein Kind ist ihm fremd geworden oder er hat zu viele Verletzungen ertragen müssen.

Liselotte Staub


Die Autorin:
Liselotte Staub ist selbstständige Psychotherapeutin und Spezialistin für familienrechtspsychologische Fragen im
zivilrechtlichen Kindesschutz. Als solche erstellt sie Gutachten, publiziert und hält regelmässig Referate zum Thema Scheidung und Kindeswohl. Sie ist gewählte Fachrichterin am Kindes- und Erwachsenenschutzgericht des Kantons Bern.

Kontakt:
Dr. phil. Liselotte Staub
Psychologin und Psychotherapeutin FSP
Eisenbahnweg 6.
3426 Aefligen
kontakt[@]staub-psychologie.ch
www.staub-psychologie.ch


Staub-Psychologie.ch


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"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird WIDERSTAND zur Pflicht!"
Veröffentlicht unter Allgemein, Entfremdung, Gesetz, Kanton Thurgau, KESB - Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, MANIFEST, Natur, Politik, Staat, Verantwortlichkeit, Widerstand