Überforderte Eltern, verwirrte Kinder, viel Stress für alle. Die Patchworkfamilie, von der linken Pädagogik gern idealisiert, wird auch von Experten wieder zunehmend kritisch betrachtet.
Vor einem Jahr war Serge bei der Wohnungseinweihung eines Freundes. Unter den neuen Gesichtern waren auch Eltern mit Kleinkindern. Im Gespräch mit einer Mutter hörte er dann diese Wortschöpfung zum ersten Mal. Zuerst erzählte die Mutter ihm, dass eines der Mädchen in ihrem Schlepptau nicht ihr leibliches sei, sondern ein Kind ihres jetzigen Mannes aus seiner ersten Ehe. Das sei doch schön. Denn nun, so erklärte sie ihm bedeutungsvoll, habe das Kind zusätzlich eine «Bonusmutter».
Bonus, o. k., so kann man es ja auch sehen, dachte Serge damals noch. Doch seit kurzem lebt seine eigene Tochter die Hälfte der Zeit in einer Patchworkfamilie – ohne ihn. Und nun erlebt Serge, dass sich sogenannte Bonusväter, wie etwa der neue Partner seiner Ex-Frau, zu einem ziemlichen Malus entwickeln können. Schliesslich ist das neue Biotop, in dem seine Tochter nun in seiner Abwesenheit aufwächst, für ihn eine völlige Blackbox. Welche Erziehung geniesst seine Tochter an einem Ort, wo er keinerlei Einfluss hat? Das Gefühl des Kontrollverlusts ist buchstäblich überwältigend.
Rückseite des Mondes
Vor seinem inneren Auge tut sich eine Blase auf, in der seine Ex mit einem anderen Mann Familie spielt, als wäre es nie anders gewesen, dazwischen seine Tochter und der halbwüchsige Sohn des Neuen (aus zweiter Ehe . . .). Da werden Dinge gemacht, die er nie zulassen würde, oder, noch schlimmer, da werden Dinge kategorisch verboten, die er sehr erfrischend findet. Welche Leitlinien kann er seinem Kind noch mitgeben, wenn er damit rechnen muss, dass in seiner Abwesenheit seine hehren Prinzipien mit Füssen getreten werden? Es ist wie die Rückseite des Mondes, dunkel und unheimlich.
Was, wenn seine Tochter plötzlich «Papi» sagt zu seinem Nachfolger? Das muss er immerhin nicht befürchten. Routinierte Bonuseltern besänftigen ihn dahingehend, dass für ein Kind immer klar bleibe, wer die leiblichen Eltern sind, solange ein regelmässiger Kontakt da ist. Genau dies müssen die Stiefeltern oft damit büssen, dass sich Kinder gegen sie abgrenzen, wenn sie sich gegen deren Massregelungen wehren. «Du hast mir gar nichts zu sagen», ist die stereotype Entgegnung von Kindern, die sich von ihren Stiefeltern gegängelt fühlen.
Was wird nun aber aus einem Kind, das am einen Ort fernsehen darf, bis ihm die Augen zufallen, während am anderen Ort die Mattscheibe als Werk des Teufels erachtet wird? Muss es nicht in endloses Grübeln versinken ob einer derartigen Inkonsistenz in der Erziehung? Es wird nun ein «Sowohl-als-auch-Kind» ohne klare Vorstellung darüber, was gut (natürlich Bücher lesen) und was böse (fernsehen) ist. So ein Kind ist doch verurteilt zu einem Leben in einer amoralischen Zwischenwelt, wo es ständig hin und her gerissen wird von den verschiedensten Versuchungen, denen es rein gar nichts entgegenzusetzen hat.
Doch die Experten haben auch in dieser Beziehung eine Beruhigungspille: Normalbegabte Kinder sind durchaus in der Lage, widersprüchliche Signale von beiden Elternteilen richtig einzuordnen, das einstige Dogma von den einheitlichen Erziehungsprinzipien ist längst passé. Für die meisten Jugendpsychologen werden Kinder unterschätzt, wenn man ihnen unterstellt, sie seien mit inkonsistenter Erziehung vonseiten beider Elternteile überfordert.
Ganz im Gegenteil, es sei sogar überheblich, wenn Erwachsene dächten, Kinder müssten – wie Pflegefälle – ganz vorsichtig mit einheitlichen Informationen gefüttert werden: Kinder seien schon sehr früh in der Lage, einzuordnen, dass am einen Ort andere Regeln gälten als woanders. Und sie könnten sehr gut damit umgehen. Man sollte also den Nachwuchs nicht von vornherein entmündigen, indem man ihm nicht zutraut, eigene Beobachtungen zu machen und diese richtig einzuordnen.
Schliesslich nützen Kinder, sobald sie sprechen können, solche Gefälle in der Toleranz bei verschiedenen Bezugspersonen aus. Man kennt die Bemerkung eines Kindes, bei Oma dürfe es länger aufbleiben als zu Hause. Genau wie Kinder also zwischen den oft laxeren Bedingungen bei den Grosseltern und jenen bei den Eltern unterscheiden können, tun sie das offenbar auch dort, wo die leiblichen Eltern nicht mehr gemeinsam erziehen.
Mehr als Zaungäste
Seit im Juli 2014 das geteilte Sorgerecht für getrennt Lebende und Geschiedene zum Normalfall geworden ist, sind Väter nach der Trennung nicht mehr Elternteile zweiter Klasse. Während sie früher im Fall einer Scheidung meist mit ansehen mussten, wie die Mütter das Sagen über die weitere Existenz des Nachwuchses hatten, sind nun die Männer nicht mehr nur Zaungäste in der Kindererziehung, sondern bestimmen zu gleichen Teilen mit.
Jährlich werden in der Schweiz rund 20 000 Ehen geschieden, in rund 15 000 Fällen sind gemäss Statistik Schweiz unmündige Kinder involviert. Dass diese Zahlen seit 2011 auf dem Papier etwas abgenommen haben, liegt massgeblich daran, dass Scheidungen zwischen zwei Ausländern nicht mehr gemeldet werden müssen.
Insgesamt gehen Schweizer Demografen davon aus, dass rund zwei von fünf Ehen geschieden werden, in Deutschland wächst etwa ein Viertel der Kinder nicht mehr in der traditionellen Familie auf, so dass dort rund drei Millionen Halbwüchsige in sogenannt alternativen Lebensmodellen gross werden.
Gleichzeitig haben Kinder heute eine sehr viel grössere Bedeutung für die Eltern als früher: Die Kinder werden mehr und mehr zu einem sinnstiftenden, oft singulären Happening und erfahren eine Betreuung durch eine Vielzahl von zugewandten Orten. Etwas, das sich beim Patchwork-Familien-Konzept noch akzentuiert: Wo drei oder vier Eltern sind, werden auch mehr Geschenke fällig als in der traditionellen Familie.
Genauso verdoppeln sich die Tanten und Grosseltern, was die Spielwarenindustrie jubeln lässt. Trotz stagnierenden Geburtenzahlen wachsen die Umsätze von Franz Carl Weber und Konsorten teilweise zweistellig. Für manche Kinder gibt’s gleich zwei Sortimente von Spielsachen, in jeder Bonusfamilie eines, damit es den Kleinen ja an nichts fehlt.
Das schlechte Gewissen der Eltern gegenüber den möglicherweise verstörten Sprösslingen lässt die Umsätze der Kinderkleiderboutiquen explodieren. Geschiedene Eltern versuchen sich oft zu übertrumpfen bei Zuwendungen und Gefälligkeiten. Einem Patchwork-Kind wird nichts abgeschlagen, damit man in dessen Augen nicht schlechter dasteht als die Parallelfamilie. Die damit verbundene Spirale der Verwöhnung wird von Pädagogen naheliegenderweise als kontraproduktiv eingestuft.
Nicht schlechtmachen
Dabei wäre alles so einfach: Ratgeber über das Zusammenleben im Patchwork-Ambiente gibt es genug, und Erziehungsratgeber sowieso. Doch diese Bücher gehen grösstenteils davon aus, dass sich die Eltern in bestem Einvernehmen getrennt haben und nun jeder seiner Wege (in eine neue Beziehung) geht.
Und die Ratschläge sind nicht einmal überraschend: Man soll den Ex-Partner vor den gemeinsamen Kindern nicht schlechtmachen. Auch wenn es manchmal schwerfallen dürfte – unterdessen mehr oder weniger ein Allgemeinplatz.
Oder: Man soll die Kinder des neuen Partners aus früheren Beziehungen nicht erziehen wollen. Das hat aus Sicht der leiblichen Eltern etwas Beruhigendes, wenn sich denn auch jeder daran hält. Wenn nun aber der Bonuspapa keine Ratgeber liest, wenn ihn die Praxistipps der modernen Pädagogik völlig kaltlassen? Auch da gibt es tolle Ratschläge: Man sollte sich nach einer gewissen Zeit zu dritt oder zu viert treffen, um solche Themen zu erörtern. Wenn aber keiner das will?
Wann bloss soll man Koordinationssitzungen mit seinem Patchworkumfeld noch einplanen, wenn ja schon die Zeit für die Absprachen über die Übergabezeiten und die dazugehörigen Orte schwer zu finden ist? Vom Austausch über erzieherische Prinzipien ganz zu schweigen. Die Unlust, sich mit dem Ex-Partner auszutauschen, erstreckt sich schnell auch auf organisatorische und selbst pädagogische Aspekte.
Durch das gemeinsame Sorgerecht entstehen ganz automatisch Pattsituationen zwischen den Erziehungsberechtigten. In letzter Instanz muss dann doch des Öfteren ein Eheschutzgericht oder gar die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb entscheiden.
Neues Scheitern
Letztlich scheitern viele Patchworkfamilien an der Vielfältigkeit und Komplexität der Anforderungen. Die permanenten Übergaben der Kinder sind oft weit aufreibender als gedacht. Und die Ängste der Eltern vor dem Verlust der leiblichen Kinder führen schnell zu Spannungen in der neuen Beziehung.
Ein erneutes Scheitern zeichnet sich ab. Und das Scheitern wird nicht selten Realität: Nach Angaben der Familientherapeuten Claudia Starke und Thomas Hess, der Autoren des Werks «Das Patchwork-Buch», scheitern rund 50 Prozent der Familien Version 2.0 nach kurzer Zeit. Die Gründe für den Misserfolg sind vielfältig, einer der häufigsten ist aber das vorschnelle Gründen einer (nicht tragfähigen) Nachfolgefamilie. Für die involvierten Kinder natürlich eine weitere Enttäuschung.
Das führt dazu, dass heute wieder eine ganze Reihe von Erziehungsexperten der Meinung ist, dass Kinder am besten in der traditionellen Familie aufwachsen. Daran ändert auch die Neubenennung von geschiedenen Eltern nichts.
Bonuseltern
Das neudeutsche Wort Bonuseltern stammt von Jesper Juul, einem dänischen Familientherapeuten, der rund 40 Bücher zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geschrieben hat. Eine der Kernthesen des Alt-68ers besagt, dass Kinder mehr begreifen und zu mehr fähig sind, als die Eltern ihnen gemeinhin zutrauen würden. Und mit dem Begriff Bonuseltern will Juul nun die Stigmatisierung des Begriffs der Stiefeltern auffangen. Er selbst, das zweite Mal verheiratet, ist Vater eines Sohnes aus erster Ehe.
(Von Raymond Lüdi)