Und plötzlich ist die Tochter weg

Ein geschiedenes Elternpaar teilt sich das Sorgerecht für die Tochter. Die Mutter besitzt jedoch das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind und zieht mit ihm von der Schweiz in die Türkei. Der Vater hat das Nachsehen.

«Vergiss deine Tochter, du hast noch ein Kind», raten ihm seine Kollegen. Doch das kann er nicht. «Ich weiss, dass es ihr nicht gut geht», sagt B. M., der im Thurgau lebt. Seit Ende Januar 2015 habe er die Zehnjährige nur einmal getroffen. Auf der Strasse. Nur ein paar Minuten hat der Vater mit seiner Tochter reden können. Im Sommer ist seine Ex-Frau mit Xenia* in die Türkei gezogen, seitdem leben sie in Istanbul. Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Bülach wusste von den Umzugsplänen, hat den Vater aber nicht informiert. Erst durch den Anwalt seiner Exfrau habe er vom Wegzug erfahren, sagt der Vater. Der Brief des Anwalts ist auf 11. August datiert. Da war er in den Ferien, sagt B. M. Als er zurückkam, seien Mutter und Tochter weg gewesen.

Kesb sieht keine Verpflichtung

Was den Vater am meisten ärgert: «Wieso hat die Kesb nie auch nur einen Ton davon zu mir gesagt?» Die Antwort darauf gibt er gleich selber. «Ich hatte immer das Gefühl, sie sind gegen mich.» Die Kesb Bülach bestreitet das. «Die Mitarbeitenden der Kesb sind gut ausgebildet, so dass es ihnen gelingt, neutral zu sein», sagt Martina Nüssli, die Präsidentin. Bei Kindschutzverfahren würden die Interessen des Kindes aber höher gewertet als die der Eltern. Martina Nüssli ist der Meinung, die Kesb sei nicht verpflichtet gewesen, den Vater zu informieren. «Zumal aus Sicht der Kesb keine Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls vorlagen.» Die Mutter sei aber darauf hingewiesen worden, dass sie gemäss Gesetz die Zustimmung des Vaters hätte einholen müssen.

Schwierige Rechtslage

Rechtlich ist der Fall kompliziert. Die Eltern von Xenia sind Tunesier und haben in Deutschland gelebt, bevor sie in die Schweiz kamen. Geheiratet hätten sie nach deutschem und tunesischem Recht, sagt der Vater. Geschieden wurden sie vor dem Amtsgericht im deutschen Tuttlingen. Den Eltern sei das gemeinsame Sorgerecht für Xenia zugesprochen worden.

Im 2010 habe das Amtsgericht Tuttlingen die gemeinsame elterliche Sorge insoweit aufgehoben, als es der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter übertragen habe. Die Mutter habe dies beantragt. Ihre Begründung: Sie habe Angst, ihr Ex-Mann könne Xenia nach Tunesien entführen. Diese Absicht habe er nie gehabt, beteuert der Vater. «Ich habe hier meine Arbeit und meine Freunde.» Er ist wieder verheiratet, und hat eine zweite Tochter. Seiner Familie gefalle es im Thurgau.

Das Gericht habe seinem Mandanten damals geraten, er solle dem Antrag der Exfrau zustimmen, sagt Rechtsanwalt Arnulf Heidegger, der B. M. vertritt. Nach dem Motto: Es schadet nichts, und wenn die Mutter dann beruhigt sei, umso besser.

Auf dieses Aufenthaltsbestimmungsrecht beruft sich die Mutter. «Ich darf mit meiner Tochter leben, wo ich will», sagt sie. Auch bei der Kesb hat sie so argumentiert. In einem Mail, das unserer Zeitung vorliegt, empfiehlt die Besuchsrechtsbeiständin der Mutter aber, sich rechtlich beraten zu lassen. Das war im Mai.

Rechtsanwalt Heidegger ist der Ansicht, die Mutter habe das gemeinsame Sorgerecht umgangen, «faktisch hat sie dem Vater die Tochter entzogen». Besuche seien bei der jetzigen Entfernung nur sehr eingeschränkt möglich.

«Wir sind hier sehr glücklich»

Sie sei vor ihrem Exmann geflohen, sagt die Mutter. «Hier in Istanbul haben wir endlich unsere Ruhe.» Ihr Exmann habe sie bis zu 30mal am Tag an ihrer Arbeitsstelle angerufen. Er habe sie bedroht und Xenia geschlagen. «Wir sind hier sehr glücklich, und meine Tochter kann wieder lachen.» Ihr Exmann zahle auch keine Alimente.

B. M. bestreitet die Vorwürfe. Seine Exfrau wolle ihn zermürben, damit er das Interesse an Xenia verliere. Er vermutet, sie habe einen neuen Partner. Anders kann er sich nicht erklären, wieso sie nach Istanbul gezogen ist. «Wenn sie geflohen ist, wieso ausgerechnet in die Türkei und nicht in ein moderneres Land?»

Geld überwiesen

B. M. befürchtet, seine Tochter habe durch den Umzug später schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt. Er zeigt SMS seiner Exfrau, in denen sie ihn um Geld für Winterkleider und eine Schuluniform für Xenia bittet. Gemäss Western-Union-Überweisungsbelegen, die unserer Zeitung vorliegen, hat der Vater seit 25. Oktober rund 1400 Schweizer Franken an die Ex-Frau geschickt.

Der Vater möchte wieder engeren Kontakt zur Tochter. Er fordert: «Die Kesb soll mir mein Kind zurückbringen.» Doch das ist Illusion. «Die Kesb ist nicht legitimiert, Kinder aus dem Ausland zurückzuholen», stellt Martina Nüssli klar. Der Vater müsste strafrechtlich gegen die Kindsmutter vorgehen. «Eine Strafklage kann ich mir nicht leisten», sagt der Vater.

Bevor ein Kind zwangsweise zurückgeholt werde, solle man abklären, wie es ihm geht, rät Martina Nüssli: «Wichtig ist, was das Kind möchte.»

* Name geändert

(IDA SANDL)


Tagblatt.ch


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