Sorgerechtsstreit in Bonn
Vater: “Das Jugendamt hat mir nie eine Chance gegeben”
BONN. In einem mysteriösen Fall folgt das Bonner Jugendamt den Empfehlungen der Mutter und sendet fehlerhafte Angaben zum Familiengericht. Nach Jahren des Streits bleiben eine therapiebedürftige Tochter und ein verzweifelter Vater übrig. Dazu viele offene Fragen. Die Stadt Bonn will sich mit Hinweis auf den “Sozialdatenschutz” nicht äußern.
Denkt Marco Schneider an seine Tochter, erinnert er sich an einen sonnigen Urlaubstag 2011 in Schweden. Die elfjährige Larissa möchte in einem Badesee um eine kleine Insel schwimmen. “Papa, kommst du mit? Alleine traue ich mich nicht”, sagt sie. Sie schwimmen gemeinsam, Seite an Seite. Schneider ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht: Es wird einer der letzten Glücksmomente zwischen Vater und Tochter sein. Wenige Monate später beginnt ein Sorgerechtsstreit zwischen den Eltern. Es kommt zum Gerichtsprozess. Das Verfahren um Larissa setzt eine Entwicklung in Gang, die für Schneider zwar noch nicht beendet ist, jedoch schon heute ein Ergebnis hat: Das Vater-Tochter-Verhältnis zwischen Larissa und ihrem Vater wird nie mehr dasselbe sein. Vielleicht ist es für immer zerstört. Wie konnte es dazu kommen?
Vor 20 Jahren. In einer Bonner Klinik lernen sich 1995 ein Krankenpfleger und eine Krankenschwester kennen. Er soll in dieser Geschichte “Marco Schneider” heißen und sie “Tanja Fischer”. Die beiden werden ein Paar. Aufs Heiraten verzichten sie. Sie bekommen eine Tochter; nennen wir sie “Larissa”. Vier Jahre nach der Geburt des Kindes trennen sich die Eltern. “Wir haben uns auseinandergelebt”, sagt Marco Schneider. Larissa lebt nach der Trennung bei der Mutter, beim Vater ist sie regelmäßig zu Besuch. Fünf Jahre lang funktioniert das ohne Probleme.
Doch 2009 meldet sich überraschend das Jugendamt bei Marco Schneider. Er soll eine “Elternvereinbarung” zu den Vater-Tochter-Treffen unterschreiben. Die Übernachtungen dürften außerdem erst weitergehen, wenn er seinem Kind ein Schlafzimmer anbieten könnte. Larissas Mutter hat der Behörde berichtet, dass Schneider in einer Ein-Zimmer-Wohnung auf 45 Quadratmetern lebt. Das Amt habe diese Wohnung nicht selbst besichtigt, sagt Marco Schneider. Der Mutter, die das Amt eingeschaltet hatte, sind die Mitarbeiter des Bonner Jugendamts vertraut, denn sie hat dort nach ihrem späteren Jurastudium einen Teil ihres Referendariats absolviert. Marco Schneider will keinen Konflikt und zieht deshalb in eine größere Wohnung.
Im Februar 2011 erleidet Tanja Fischer einen Schlaganfall. Die zehnjährige Larissa ruft den Rettungsdienst. Die Mutter muss ins Krankenhaus. Infolge des Schlaganfalls ist sie körperlich und seelisch beeinträchtigt. In dieser Zeit lebt Larissa bei ihrem Vater. Nach Tanja Fischers Reha nimmt Marco Schneider seine hilfsbedürftige Ex-Freundin vorübergehend bei sich auf, obwohl es die Beziehung zu seiner neuen Lebensgefährtin enorm belastet. Etwa sechs Monate später findet Tanja Fischer eine Wohnung mit Kinderzimmer in einem Bonner Mehrgenerationenhaus. Um die notwendige Renovierung, neue Möbel, um den Umzug – um alles kümmert sich Marco Schneider, so berichtet es die Einrichtungsleitung. “Ich wollte, dass Larissa und ihre Mutter nicht getrennt werden”, sagt Marco Schneider. Nachdem alles vorbereitet ist, entscheidet Tanja Fischer sich um. Sie zieht ins Haus einer Freundin. Weitere Mitbewohner sind deren Lebensgefährte, der Sohn der beiden sowie Hannah, Tochter der Freundin aus erster Ehe. In der Sechser-WG teilt sich Larissas Mutter, so berichtet eine Besucherin des Hauses, mit Larissa eine schmale Liege im Wohnzimmer. Einwände des Jugendamtes: keine.
“Von dem Moment des Einzugs an war keine normale Kommunikation mit der Mutter mehr möglich”, sagt Marco Schneider. Doch auch die Tochter verändert sich in den folgenden Monaten. Das berichtet die Klassenlehrerin des Kindes dem Vater; nennen wir sie “Frau Lysacek”. Dem GA bestätigt sie ihre Aussagen von damals.
Die Lehrerin kennt Larissa seit drei Jahren. In der Zeit nach dem Umzug bemerkt sie bei dem Kind “Zeichen körperlicher Verwahrlosung”. Larissa wirke blass und habe stark zugenommen. Auch ihre Noten verschlechtern sich. Larissa erzählt der Lehrerin, dass sie zu Hause keinen Rückzugsort zum Lernen habe. Lysacek versucht, mit der Mutter zu telefonieren. Vergeblich. Larissa richtet aus, es sei “im Moment kein Gespräch möglich”. Eine Stellungnahme auf GA-Anfrage lehnt die Mutter ab. Sie möchte sich dazu – wie auch zu dem gesamten Fall – nicht äußern.
Die Klassenlehrerin ruft das Jugendamt an
Irgendwann findet die Lehrerin die Situation unhaltbar. Sie beschließt, nachdem der Vater bereits das Jugendamt informiert hatte, ebenfalls den Kontakt zu suchen: “Ich rief mehrmals beim Jugendamt an, bis jemand bereit war, mit mir zu reden”, sagt Lysacek. Sie schildert einer Mitarbeiterin, was sie beobachtet hat, und bittet um ein persönliches Gespräch. Die Mitarbeiterin sagt es ihr zu, meldet sich aber nicht mehr. Stattdessen ruft ein anderer Mitarbeiter des Amtes an: Man werde sich der Sache annehmen und sie, Lehrerin Lysacek, über das Ergebnis informieren. Sie wartet vergeblich. Warum? Der GA hat der Stadt Bonn diese und andere Fragen Ende April gestellt. Am vergangenen Freitag antwortete das Presseamt: “Die Stadt kann und wird sich zu einem laufenden Jugendhilfefall nicht öffentlich äußern. Aus Sicht der Stadt verbietet sich eine öffentliche Darstellung grundsätzlich, weil dies nicht vom Gebot des Sozialdatenschutzes gedeckt wäre und die Gefahr besteht, dass das Kind identifizierbar wird. Das ist dem Kind nicht zuzumuten. (…) Die Stadt nimmt in Kauf, dass deshalb ihre Rolle nicht objektiv dargestellt wird, denn sie bewertet das Kindeswohl höher als das eigene Image.”
Im März 2012 fährt Larissa mit ihrer Schule auf Skifreizeit. Vielleicht ist sie bei der Abfahrt etwas unvorsichtig, vielleicht übermütig: Sie stürzt und verletzt sich. Es ist nichts Ernstes, doch weiterfahren kann sie nicht. Lysacek will die Mutter verständigen, doch Larissa lehnt ab: Sie möchte dies lieber selbst tun; sie befürchtet, dass die Mutter verängstigt werden könnte.
Im Laufe der folgenden Monate hört Marco Schneider einen Verdacht. Hannah, Tochter von Tanja Fischers Freundin und im selben Alter wie Larissa, sei angeblich zu Hause sexuell missbraucht worden. Eine Verwandte Hannahs hat das Jugendamt informiert. Auch fällt einem Lehrer auf, dass Hannah mit kreisrunden Brandwunden in die Schule kommt. Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass der Fachdienst Kinderschutz bei einer Überprüfung keine Anhaltspunkte für den Missbrauchsverdacht findet, doch das kann Marco Schneider zunächst nicht wissen. Er macht sich große Sorgen um Hannah und seine Tochter und alarmiert nun selbst das Jugendamt. “Ich wollte, dass man sich wieder gemeinsam an einen Tisch setzt”, sagt Schneider heute. “Es war der größte Fehler meines Lebens. Heute weiß ich: Ich hatte nie eine Chance.“
Schließlich trifft er bei einem Termin beim Jugendamt die Mitarbeiterin Frau W. – jene Sachbearbeiterin, die bereits seine Einzimmerwohnung als Übernachtungsort für Larissa beanstandet und Larissas Lehrerin nicht persönlich angehört hatte. Im Gespräch hat Marco Schneider nicht das Gefühl, dass Frau W. seine Sorgen ernst nimmt. Wenige Tage nach dem Gespräch schickt Frau W. ihm per Post eine Vereinbarung zur Unterschrift zu. Darin soll er sich verpflichten, sich nicht mehr bei Larissas Schule über seine Tochter zu informieren. Marco Schneider sucht Frau W. – ohne Termin – in deren Büro auf. Sie vermerkt in der Akte, dass Marco Schneider ausfallend geworden sei. Das streitet Larissas Vater nicht ab: “Ich bin laut geworden. Ich habe ihr gesagt, dass sie das Kindeswohl mit Füßen tritt.” Ein weiteres persönliches Gespräch wird ihm Frau W. danach nicht mehr ermöglichen.
Immer besorgter über die Persönlichkeitsveränderungen seiner Tochter lässt ihr Vater sie in einer Klinik für Psychotherapeutische Medizin untersuchen. Im Bericht der Klinik heißt es unter anderem: “Aufgrund der Befunde liegt nahe, dass Larissa eine depressive Verstimmung erlitten hat.” Und: “Larissa ist in die extrem unglückliche Situation geraten, die Mutter zu »bemuttern«”.
Die Prüfung eines geeigneten Lebensmittelpunktes
Marco Schneider legt dem Jugendamt das Dokument vor. Das ignoriert es und beauftragt stattdessen ein “Ambulantes Clearing” – eine Klärung durch einen externen Dienstleister, welche Probleme für Larissa in ihrer Lebenssituation bestehen, um danach Hilfsmaßnahmen einleiten zu können. Den Auftrag erhält der private Erziehungshilfeverein “Kleiner Muck”. Konkret soll geprüft werden, ob der Haushalt, in dem Mutter und Tochter leben, “ein geeigneter Lebensmittelpunkt ist” – so steht es im Bericht der Vereinsmitarbeiterin M.
Der Haushalt des Vaters ist zu einer vergleichenden Begutachtung nicht vorgesehen, doch soll seine Sicht berücksichtigt werden. Marco Schneider erwartet, dass er sich persönlich äußern darf, doch Frau M. sagt das vereinbarte Treffen kurzfristig ab. Er ruft beim “Kleinen Muck” an, bittet darum, man möge auch Lehrerin Lysacek befragen. Die Fachkraft vom “Kleinen Muck” verzichtet auch darauf. Stattdessen spricht Frau M. mit Larissas neuem Lehrer, der das Mädchen erst seit etwa 14 Tagen kennt. Marco Schneider schlägt dem Verein zwei weitere Gesprächspartner vor: eine Diplom-Psychologin und einen Arzt – beide kennen die Verhältnisse bei Larissa zu Hause.
Als Marco Schneider erstmals persönlich vorsprechen darf, ist das dreimonatige “Clearing” bereits beendet, so das Amtsgericht Bonn am 11. Juni 2014. Dem Gericht sei “in der Datierung ein Fehler unterlaufen”, sagt hingegen “Muck”-Geschäftsführer Kurt Dauben auf GA-Anfrage. Tatsächlich habe das “Clearing” zwei Wochen später – als vom Gericht angenommen – begonnen und sei nachträglich um einen Monat verlängert worden. Nicht nur in diesem Punkt scheint es auf Seite des “Kleinen Muck” Unklarheiten zu geben. Insgesamt neun Gespräche seien während des Verfahrens mit Schneider geführt worden, erklärt Dauben. Einer Journalistin der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” sagt er, es seien sechs gewesen. Geschäftsführer Dauben sagt weiter, dass am 5. Oktober 2012 mit Marco Schneider ein Gespräch stattgefunden habe. Tatsächlich aber fand das Treffen mit dem Vater erst am 15. Oktober statt. Auch das steht in dem späteren Gerichtsurteil. Larissas Klassenlehrerin sei nicht befragt worden, weil sie zu Beginn des Clearings bereits pensioniert war, sagt der Geschäftsführer. Im Urteil des Amtsgerichts steht es anders. Auch Frau Lysacek selbst sagt: Sie sei erst am 31. Juli 2012 in den Ruhestand gegangen, fast vier Wochen nach Beginn des Clearings (oder zwei Wochen, nach Darstellung des “Kleinen Muck”).
Im August 2012 eskaliert die Situation. Marco Schneider ist kurz zuvor mit seiner Tochter in Urlaub gewesen. Er öffnet einen Brief: Die Mutter hat überraschend beim Familiengericht Bonn eine Klärung des Sorgerechts beantragt und dass das Umgangsrecht des Vaters sofort eingeschränkt werden soll. Der Grund: Larissa habe Angst, zum Vater zurückzukehren, weil dieser sie unter Druck gesetzt habe, zu ihm zu ziehen. “Ich war entsetzt, damit hätte ich damals nie gerechnet” sagt Marco Schneider. Das Familiengericht bittet das Jugendamt um seine Einschätzung. Frau W. nimmt selbst Stellung und legt zudem einen Bericht des “Kleinen Muck” vor. Beide Schriftstücke sind wichtig – und fehlerhaft, was Richter 2013 und 2014 in anderen Verfahren bestätigen. Jugendamt und Verein machen gegenüber dem Familiengericht falsche Aussagen über Larissas Vater. Erstens teilt das Jugendamt mit, dass Marco Schneider verzogen sei. Neue Adresse: unbekannt. “Das Jugendamt hätte zu diesem Zeitpunkt nur einen Blick in die eigenen Akten werfen müssen, um meine neue Anschrift zu erfahren”, sagt Marco Schneider. Dem Amt war die Adresse mindestens seit 18 Tagen bekannt. Erst acht Wochen später wird Frau W. den Fehler in einem Schreiben an das Gericht korrigieren und den Irrtum noch rechtzeitig vor der Entscheidung einräumen. Zweitens erklären Frau W. und der “Kleine Muck”, der Vater verzögere eine psychologische Behandlung der Tochter, da er einer Untersuchung nicht zustimmen wolle.
“Muck”-Geschäftsführer Kurt Dauben sagt: Erst am 23. Oktober 2012 sei eine Einverständniserklärung zur Behandlung Larissas mit dem Datum 25. August eingegangen. Dabei existiert eine E-Mail der “Muck”-Mitarbeiterin Frau M. an Schneider vom 27. August. Sie schreibt: “Ihren Vorschlag, gemeinsam mit Larissa eine Therapeutin aufzusuchen, finde ich sehr gut.” Marco Schneider versichert: “Ich habe mehrmals mein Einverständnis erklärt, telefonisch und schriftlich.” Im Urteil des Amtsgerichts Bonn zum Fall heißt es, Unstimmigkeiten habe es primär über das “Wie” einer psychologischen Behandlung gegeben, weniger über das “Ob”. Was bei den zwei falschen Behauptungen auffällt: Beide Aussagen erscheinen bereits im Antrag Tanja Fischers an das Gericht. Haben die Fachstellen sie ungeprüft von der Mutter übernommen?
“Es passiert sehr oft, dass sich das Jugendamt früh einseitig positioniert. Das ist praktisch Standard”, sagt Rechtsanwalt Jürgen Rudolph, der fast 30 Jahre Familienrichter am Amtsgericht Cochem war. “Oft geschieht es zum Vorteil desjenigen Elternteils, der ganz einfach im Bezirk des zuständigen Jugendamtes wohnt. Man kann beobachten, dass häufig ein Netz unter den am Verfahren beteiligten Stellen wie Jugendamt, Gutachter und Verfahrensbeistand entsteht, in dem eine vorherrschende Position übernommen wird.”
Auch eine dritte Aussage der Mutter findet sich im Bericht des Jugendamtes wieder: Marco Schneider, erklärt Frau W., habe das “Clearing” verzögert, weil er den entsprechenden “Erziehungshilfeantrag” nicht habe unterzeichnen wollen. Marco Schneider sagt: Er habe gar nicht gewusst, dass so ein Antrag auf seine Unterschrift wartete. Denn Frau W. hat das Dokument Tanja Fischer gegeben: Sie sollte es an ihren Ex-Partner weiterreichen. Dass es dazu nicht kommen würde, hätte sich die Sachbearbeiterin denken können, schließlich beschreibt sie selbst das Verhältnis der Eltern als “sehr konfliktreich”. Dieses Vorgehen des Jugendamtes sei “vorsätzlich falsch”, sagt der ehemalige Familienrichter Rudolph: “Es ist eindeutig die Aufgabe des Jugendamtes, den Antrag dem Vater nicht nur zuzuschicken, sondern mit ihm persönlich darüber zu sprechen.” Warum hat das Amt nicht bei Marco Schneider nachgefragt, ob er von Tanja Fischer den Antrag erhalten hat?
Schneider erfährt am 5. Juli 2012 eher zufällig von dem Schriftstück, das er unterschreiben soll. “Hätte mein Anwalt keinen Termin für diesen Zeitpunkt beim Jugendamt vereinbart, hätte ich wohl niemals von dem Antrag erfahren.” Ein Jugendamts-Mitarbeiter schickt Schneiders Anwalt das Dokument einen Tag später per E-Mail zu. Noch am selben Tag sendet Schneider es unterschrieben zurück. Das Amtsgericht Bonn stellt später fest: Larissas Vater hat den Erziehungshilfeantrag elf Tage früher unterzeichnet als Larissas Mutter.
Ende Oktober 2012 kommt es zum Termin vor dem Familiengericht. Dort heißt es in der Präambel, die die Situation zusammenfasst, zu Larissas Wunsch: “Sie möchte ganz gerne bei der Mutter leben bleiben, aber mit dem Vater regelmäßig Kontakt haben”. Ergebnis ist ein Vergleich. Die elterliche Sorge bleibt Auftrag beider Eltern, entscheidet die Richterin. Tanja Fischer und Marco Schneider werden verpflichtet, gemeinsam eine Elternberatung aufzusuchen. Für Larissa ordnet die Richterin eine Therapie an. Ansonsten folgt sie der Darstellung von Mutter und Erziehungshilfeverein, dass sich Larissa durch den Vater unter Druck gesetzt fühle und ihren Lebensmittelpunkt bei der Mutter haben wolle. Tanja Fischer erhält, wie von ihr beantragt, das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht.
“Ob der Wunsch, bei einem Elternteil zu leben, wirklich dem eigenen Willen des Kindes entstammt, ist immer schwierig zu ermitteln”, sagt die Familienrechtspsychologin Marie-Luise Kluck, Professorin an der Universität Bonn. “Wenn das Kind erfährt, dass ein Elternteil den anderen nicht mag, kann es vorkommen, dass es sich denkt: Ich tue dem einen weh, wenn ich zum anderen gehe.” Für dieses Phänomen gibt es einen Fachbegriff: “Eltern-Kind-Entfremdung”. Dabei passiert es, dass das Kind den Willen eines Elternteils unmerklich verinnerlicht. “Das Kind kann es sich nicht leisten, die Person, bei der es lebt, zu vergraulen”, sagt Kluck. Ein psychologisches Gutachten sei daher bei Verhandlungen vor Familiengerichten auf jeden Fall sinnvoll, es sei denn, der Richter selbst verfüge über ausreichende Kenntnisse.
Die Mutter boykottiert den Vergleich vor Gericht
Der ehemalige Familienrichter Rudolph sagt: “Natürlich muss ein Familienrichter ein Gutachten einholen. Leider passiert das viel zu selten.” Familienrichtern fehle es schlichtweg an Grundlagenwissen. “Solche Dinge sind weder Gegenstand der Aus- und Weiterbildung, noch gibt es entsprechende Fortbildungsmöglichkeiten.” Auch die Richterin über Larissas Fall hat kein solches Gutachten eingeholt. Rudolph sagt: “Gerade in Fällen mit hohem Konfliktpotenzial ist es leider die Regel, dass sich der Richter hinter der Meinung des Jugendamtes verschanzt.”
Marco Schneider hat dem Vergleich damals zugestimmt: “Mir wurde gesagt, es könne sein, dass ich ansonsten das Sorgerecht ganz verliere.” Zudem schließen die Eltern vor Gericht eine Umgangsvereinbarung. Sie sieht vor, dass Schneider wieder Kontakt zu Larissa aufnehmen können soll. Alle zwei Wochen soll er sie zu sich nehmen dürfen, wenn sie dazu bereit sei. Dass sie nicht dazu bereit sein könnte, hält er damals für unvorstellbar. Schließlich haben auch Jugendamt und Verfahrensbeistand festgestellt, dass Larissa ihren Vater weiterhin sehen möchte. Wörtlich hält die Richterin fest: “Das Kind möchte ganz gerne bei der Mutter leben bleiben, aber mit dem Vater regelmäßig Kontakt haben.”
Doch nach dem Vergleich boykottiert die Mutter die verfügte Umgangsvereinbarung. Dass Larissa ihren Vater nicht mehr sehen wolle – genau dies sei jetzt eingetreten, behauptet Tanja Fischer. “Gerichte haben die Möglichkeit, die Nichteinhaltung der Umgangsvereinbarung zu sanktionieren”, sagt Rudolph. Doch das Familiengericht teilt Marco Schneiders Anwalt nur mit, dass dies die Eltern untereinander ausmachen müssten. Auch das Jugendamt wird nicht aktiv.
Zum vereinbarten Eltern-Gespräch in der Evangelischen Beratungsstelle Bonn erscheint nur der Vater. Keiner reagiert: Weder das Jugendamt noch der “Kleine Muck”, der infolge des eigenen “Clearings” von der Stadt Bonn einen Auftrag zur Erziehungshilfe für die Mutter erhalten hat. Zu einer Therapie für Larissa kommt es erst gar nicht. Das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ), wo das Mädchen ein Beratungsgespräch führt, erklärt: Die Zwölfjährige lehne eine Therapie ab. Es gibt viele Dinge, die eine Pubertierende nicht tun möchte – doch ihre Mutter könnte qua Gerichtsvereinbarung Entscheidungen für sie treffen. Aber Tanja Fischer macht, was Larissa sich wünscht.
Im November 2013 meldet sich Larissas Klassenlehrer bei Marco Schneider: Mitschüler hätten aufgeschnappt, dass Larissa Selbstmordgedanken geäußert habe. “Mir wurde erst einmal schwarz vor Augen”, erinnert sich der Vater. “Ich konnte es nicht fassen.” Larissas Freundin Hannah geht etwa zur gleichen Zeit noch einen Schritt weiter: Sie stellt sich auf eine Brücke, um hinunterzuspringen – infolge undifferenzierter Ängste und schlimmer Schuldgefühle, teilt die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin der Polizei mit.
Nach Larissas Selbstmordäußerung drängt nun die Schule auf eine Therapie. Ein Jahr nach dem von Jugendamt und Erziehungshilfeverein tolerierten Abbruch der Behandlung beim MVZ macht Larissa einen neuen Anlauf. Die Mutter wählt die behandelnde Psychologin aus – und die benennt nun deutlich, was Frau W. und den Experten vom “Kleinen Muck” bisher verborgen geblieben ist. Für den Vater ist es ein niederschmetternder Befund: Larissa kann im Beisein der Mutter keine Aufarbeitung anstreben, da sie das Lebenskonzept der Mutter, in dem der Vater wie ein Täter wahrgenommen wird, nicht instabil werden lassen möchte”, so die Psychologin. Kurz gesagt: Es ist zu einer Eltern-Kind-Entfremdung gekommen.
Abbruch der Therapie, Widerstand der Schule
Als nächsten Schritt der Therapie plant die Psychologin eine Begegnung Larissas mit dem Vater, doch da bricht die Mutter die Therapie ab. Erst jetzt regt sich Widerstand. Nicht vom Jugendamt oder vom “Kleinen Muck”, sondern von Larissas Schule. Die Schulleitung schreibt der Mutter: Larissa habe sich in kurzer Zeit nach Beginn der Therapie positiv verändert. Eine “lückenlose Weiterführung” der Maßnahme sei dringend zu empfehlen. Tanja Fischer antwortet über ihren Anwalt. “Die von Ihnen ausgesprochenen Empfehlungen kann ich hier zurzeit nicht nachvollziehen”, schreibt der Jurist der Schule.
Auch Larissas Vater ist nicht untätig geblieben. Wiederholt schildert er dem Jugendamt seine Sorgen um die Gesundheit seiner Tochter. Auf Wunsch des Amtsleiters wird eine Risikoeinschätzung vorgenommen. Dabei soll die Gefährdung des Kindes bewertet werden. Das Jugendamt kommt zu dem Schluss, dass keine Gefährdung vorliege. Die Suiziddrohung habe mit dem massiven Druck des Vaters auf das Kind zu tun. Damit ist das Jugendamt in seinem Erkenntnisfortschritt bereits Mitte Januar 2014 scheinbar viel weiter als Larissas Psychotherapeutin, die Ende desselben Monats feststellt: “Die Symptomatik, die in eine Behandlung führte, ist nicht mal im Ansatz dechiffriert.”
Mai 2015. Marco Schneider ist wegen eines Termins wieder in Bonn. Wie es seiner Tochter heute geht? Darüber weiß er kaum noch etwas. Welche Musik hört sie gern? Ist sie vielleicht verliebt? Was sind ihre Träume, Hoffnungen, Berufswünsche? Fast zwei Jahre ist es her, dass er seine Tochter das letzte Mal gesehen hat. Damals lief sie voller Angst vor ihm davon. Das einzige, was er weiß: In wenigen Wochen wird Larissa 15. “Vielleicht würde ich sie nicht einmal auf der Straße erkennen. Kinder verändern sich ja so schnell in diesem Alter”, sagt er.
In seiner Tasche trägt Marco Schneider einen Laptop, den Speicher gefüllt mit E-Mails und eingescannten Dokumenten aus vier Jahren. Er hat nie aufgehört, um sein Kind zu kämpfen. Am liebsten würde er sofort wieder beim Jugendamt vorbeischauen, um die Sorgen um seine Tochter, den Schmerz seines unnötigen Verlustes und seine Empörung über das Geschehene loszuwerden – in der Hoffnung, dass jemand, vielleicht sogar Frau W., Fehler eingesteht und umsteuert; dass sich etwas ändert. Doch das ist nicht möglich. Marco Schneider hat im Jugendamt Hausverbot, genauso wie im Alten Rathaus. In der Begründung der Stadt heißt es, dass der Vater seine Aktivitäten mit zahlreichen diskreditierenden und provozierenden schriftlichen Äußerungen fortgesetzt habe. Die Stadt sieht darin eine persönliche Bedrohung ihrer Mitarbeiter.
“Jugendämter unterliegen keiner Kontrolle”
Marco Schneider legt Dienstaufsichtsbeschwerde ein – zwei Mal. Doch weder der Jugendamtsleiter noch Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch können ein Fehlverhalten der Mitarbeiter feststellen. Solange das Amtsgericht keine neue Klage zulässt, hat Schneider jetzt alle Mittel ausgeschöpft. Die kommunale Selbstverwaltung schließt eine Überprüfung der Verwaltungsarbeit durch eine unabhängige Aufsicht aus. Daran ist auch eine Untersuchung des Falls durch den Petitionsausschuss des NRW-Landtags gescheitert. Das war Schneiders vorerst letzte Hoffnung.
“Dass Jugendämter keiner Kontrolle unterliegen, ist ein echtes Problem”, sagt Karl-Heinz Pramor vom Verein “Väteraufbruch“, der sich für das Recht des Kindes auf beide Elternteile einsetzt. Auch Mütter sind dort Mitglieder, wenn Kindern dieses Recht nach einer Trennung versagt wird. “Die Jugendämter können letztlich machen, was sie wollen”, so Pramor. “Denn sie wissen: Ihnen passiert ja sowieso nichts.”
Marco Schneider bleibt weiter hilflos – und erlebt, wie sich seine Tochter weiter von ihm entfremdet. Er bezweifelt, ob der “Kleine Muck” wirklich darin interessiert ist, auf die vom Familiengericht angeordnete Kontaktaufnahme zum Vater hinzuarbeiten. Bis Larissa das 18. Lebensjahr erreicht hat, wird die Stadt Bonn jährlich etwa 22.000 Euro für die Leistungen des privaten Vereins zahlen.
Im November 2013 hatte die Mitarbeiterin des “Kleinen Muck” dem Jugendamt mitgeteilt, dass der Suizidversuch Hannahs unabhängig von Larissas Selbstmordäußerung zu sehen sei: Beide Mütter hätten “ihre Kinder gut im Blick”. Knapp zwei Monate später versucht Hannah erneut, sich das Leben zu nehmen: Sie schneidet sich die Beine auf. Hannah wird danach in eine Psychiatrie-Abteilung eingewiesen.
(Von Marcel Dörsing)