Nicht zum ersten Mal steht sie in der Kritik: Das Bundesgericht rügt die Thurgauer Staatsanwaltschaft wegen Verfahrensfehlern. Für viele Strafrechtler ist der Fall ein Zeichen dafür, dass die Ermittler des Staats zu viel Macht haben – und ein Aufsichtsproblem.
Das Urteil des Bundesgerichts vom 21. März muss sich wie eine Ohrfeige angefühlt haben. Die Rede ist von «schwerwiegenden» und «krassen» Verfahrensfehlern. Begangen von der Thurgauer Staatsanwaltschaft und «vehement» verteidigt durch den Frauenfelder Staatsanwalt Marcel Brun.
Die Tat liegt einige Jahre zurück. Am 28. März 2014 brannte im Thurgauischen St. Margarethen eine Fabrikhalle ab. 17 Stunden dauerte der Feuerwehreinsatz, rund 50 Rettungskräfte waren im Einsatz. Kaum war das Feuer ausgebrochen, wurde der mutmassliche Brandstifter an der Grenze zu Deutschland gefasst – mit Generator, Benzinkanister und Waffen im Lieferwagen. Er habe den Brand im Auftrag eines anderen gelegt, der in der Halle eine Fundgrube betrieben hatte, gab er der Polizei zu Protokoll. Die Absicht dahinter: Versicherungsbetrug. Auch der zweite Beschuldigte, der mutmassliche Anstifter, wurde bald gefasst. Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld erhob Anklage – und gewährte dem Brandleger ein abgekürztes Verfahren. So kam es, dass dieser rasch verurteilt wurde und bereits seit einem Jahr wieder auf freiem Fuss war, als auch sein angeblicher Komplize im März 2016 angeklagt wurde.
Es gilt: Gleiche Tat, gleiches Verfahren
In diesem «getrennten Verfahren» lag der offensichtliche Fehler, sagt Matthias Hotz, Verteidiger des mutmasslichen Anstifters auf Anfrage. Er habe erst im Nachhinein vom bereits erledigten abgekürzten Verfahren erfahren und dieses Vorgehen beim Obergericht erfolgreich angefochten. Es gelte der Grundsatz der Verfahrenseinheit. Teilnehmer an derselben Straftat müssten gemeinsam angeklagt und verurteilt werden.
«Mein Mandant wurde in unkorrekter Weise benachteiligt», sagt der Anwalt. Im Mai letzten Jahres verlangte er zudem, Staatsanwalt Brun sei in den Ausstand zu versetzen. Brun, der den Fall von seinem Vorgänger übernommen hatte, widersetzte sich der Forderung, worauf ihn das Thurgauer Obergericht zurückpfiff. Damit wollte sich der Staatsanwalt jedoch nicht abfinden. Er – obwohl dazu wahrscheinlich gar nicht berechtigt – zog das Urteil weiter ans Bundesgericht, um erneut eine Schlappe einzufahren.
“Aktenwidrig” und “schlichtweg dreist”
Zwar habe Brun die «krassen Verfahrensfehler» seines Vorgängers nicht selber zu verantworten, schrieb das Bundesgericht in seinem Urteil. Er habe die Fehler aber «vehement verteidigt» und so den «Anschein der Voreingenommenheit» erweckt. Zudem habe er sich «in unsachlicher Weise» gegenüber Hotz geäussert, dessen zutreffende Darlegungen als «aktenwidrig» und «schlichtweg dreist» bezeichnet. Er sei zu Recht in den Ausstand zu versetzen.
Dass das Ober- und vor allem das Bundesgericht solch deutliche Worte wähle, geschehe «sehr, sehr selten», sagt der Solothurner Strafverteidiger Konrad Jeker, der auf den Fall aufmerksam geworden ist. Brun habe sich vom eigenen Obergericht schwerste Vorwürfe anhören müssen. Dass er daraufhin auf Kosten des Kantons das Bundesgericht anrufe und damit die eigenen Verfehlungen auch noch öffentlich mache, sei «einfach nur noch peinlich und absolut unmöglich». So stehe er nicht nur als schlechter Verlierer da, sondern auch als fachlich überfordert, sagt Jeker.
“Etwas ungeschickt, aber nicht unvertretbar”
Verfehlungen seien im Rechtsbereich zwar nicht immer leicht zu erkennen, zumal häufig verschiedene Ansichten aufeinander prallten. Laut Jeker gehört es aber zum «Einmaleins» eines Profis, den Gesetzesartikel zu kennen, der für solche Fälle einheitliche Verfahren vorschreibe. Umso unverständlicher sei es, dass Brun das Urteil des Obergerichts nicht auf sich sitzen liess. «Es gibt viele Staatsanwälte, die bewusst etwas durchziehen, das nicht zulässig ist – in der Hoffnung, es gebe keine Beschwerden.»
Weniger dramatisch sieht es Christopher Geth, Strafrechtsprofessor an der Universität Bern. Es komme bedauerlicherweise auch in anderen Kantonen vor, dass Staatsanwaltschaften Verfahren getrennt führten, obwohl sie mehrere Beschuldigte gemeinsam beurteilen oder anklagen müssten. Es sei für diese halt weniger aufwendig, wenn sie Mitbeschuldigte nicht zu Einvernahmen einladen und ihnen Akteneinsicht gewähren müssten. «Es besteht diesbezüglich Handlungsbedarf», sagt Geth. Dass Brun die Frage, ob er in den Ausstand zu versetzen sei, dem Bundesgericht vorgelegt habe, sei aus taktischen Gründen zwar «etwas ungeschickt», aber nicht unvertretbar, findet Geth.
Zu viel Macht, zu wenig Kontrolle
Für Jeker ist indes klar: «Die Staatsanwälte werden viel zu wenig kontrolliert. Sie haben eine riesige Macht, jeder Fehlentscheid kann fatal sein.» Die Frage nach fehlender Kontrolle hat auch die Thurgauer Politik schon beschäftigt. Bereits 2015 forderte der Romanshorner SVP-Kantonsrat Urs Martin, die Staatsanwaltschaft sei unter eine fachliche Aufsichtsbehörde zu stellen. Sie friste ein «Exotendasein». Damals hatte das Bezirksgericht Weinfelden einen Deal zwischen der Thurgauer Staatsanwaltschaft und dem einstigen Radprofi Jan Ullrich harsch zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Gutachten unterschlagen, das ein höheres Strafmass zur Folge gehabt hätte.
Auch im kürzlich abgeschlossenen Fall Kümmertshausen hagelte es Kritik. Der «Blick» sprach von einem «filmreifen Justizpfusch» und bezeichnete die Thurgauer Staatsanwälte als «Laiendarsteller». Zwei von ihnen waren vom Bundesgericht wegen «zahlreicher und teilweise krasser Verfahrensfehler» scharf gerügt und in den Ausstand versetzt worden, weil sie – auch hier – den sogenannten Kronzeugen in einem abgekürzten Verfahren abgetrennt von den Mitbeschuldigten verurteilt hatten.
Für Jeker ist klar, dass das Problem an der Führung liegen muss. «Solche Fehler geschehen meist gehäuft, wenn die Zügel zu locker gehalten werden, zu wenig Unterstützung geboten wird», sagt er. Auch Urs Martin ortet das Problem bei der Generalstaatsanwaltschaft. Seine Motion, eine Aufsichtsbehörde zu schaffen, wurde jedoch abgelehnt. Jetzt, wo Generalstaatsanwalt Hans-Ruedi Grafs Pensionierung Ende Mai unmittelbar bevorsteht, sagt Martin: «Mit Grafs Abgang ist für mich das Wichtigste erfüllt worden. Ich hoffe, mit der neuen Führung verbessert sich die Qualität.»
«Staatsanwälte müssen Risiken eingehen»
Generalstaatsanwalt Hans-Ruedi Graf verteidigt auf Anfrage der «Ostschweiz am Sonntag» das Verhalten von Marcel Brun. Das Bundesgericht habe in einem vergleichbaren Fall ein getrenntes Verfahren schon gutgeheissen. «Recht ist keine exakte Wissenschaft. Wenn man es vorwärtsbringen möchte, muss man Risiken eingehen.» Sprich, eine Beschwerde einreichen, auch wenn man allenfalls «eins aufs Dach bekommt».
Wo das Gesetz keine klaren Vorgaben mache, könne das einen dazu ermuntern, das Bundesgericht anzurufen, um dessen Auslegung zu erfahren. Das heisse aber nicht, dass man blind Ressourcen verschleudere. «Wir gelangen höchstens zwei- bis dreimal jährlich ans Bundesgericht.» Den Vorwurf des Führungsproblems lässt Graf nicht gelten. Das sei reine Polemik. Fehler kämen vor, das sage nichts über die Qualität der Staatsanwälte im Thurgau aus. «Hier passieren nicht mehr Fehler als anderswo.»
22045 Strafverfahren im Jahr 2016
Graf nennt Zahlen: Von insgesamt 22045 Strafverfahren im Jahr 2016 seien 136 Beschwerden beim Obergericht eingegangen, davon die Mehrheit (98) abgewiesen worden. «Das zeigt, dass die Staatsanwaltschaft im Thurgau ein grosses Vertrauen geniesst.»
Vier Jahre, nachdem die Lagerhalle in St. Margarethen abgebrannt ist, muss ein anderer Staatsanwalt die zwei Beschuldigten nun erneut vor Gericht bringen. Das Urteil im abgekürzten Verfahren ist vom Obergericht als nichtig erklärt worden.
(Von Janina Gehrig)