Wenn sich Eltern um Kinder streiten, werden vor Gericht Gutachten als Beweismittel eingesetzt. Die Gutachter verfügen dabei über eingeschränkte Macht.
Das Schreiben traf Markus W. (Name geändert) wie eine Faust. Er hatte das Gutachten erwartet, aber was er jetzt las, kam aus heiterem Himmel. Er zeige «Tendenzen zum Stalking und Mobbing» stand da, er wurde sogar eines Übergriffs verdächtigt. Vorwürfe, von denen keine Rede war, als die Psychologin sich vor ein paar Wochen mit ihm unterhalten hatte. Rund eine Stunde hatte das Gespräch gedauert. W., 37 Jahre alt, hatte ihr seine spezielle Beziehung zur Tochter einer engen Freundin geschildert, seine Rolle im komplizierten Beziehungsgefüge. Der Vater hatte die Familie früh verlassen, W. sprang ein.
Von Geburt an kümmerte er sich regelmässig um die heute Zwölfjährige, unterstützte Mutter und Tochter, jahrelang. Er ging mit dem Kind zum Arzt, begleitete es zum ersten Schultag, hütete es häufig und bemühte sich darum, dem Mädchen den Kontakt zu seinem leiblichen Vater wieder zu ermöglichen. In einer Krisensituation platzierte die Kesb das Kind sogar mehrere Wochen bei W.
Die Episode mit der Fremdplatzierung wurde zum Wendepunkt in der Beziehung zwischen W. und der Mutter. Nachdem das Kind wieder bei ihr wohnen konnte, empfahlen die Behörden ausdrücklich weiterhin geregelte Kontakte mit W., weil die Beziehung ein wichtiger Stabilitätsfaktor sei. Doch die Mutter erfand immer neue Gründe, um die Besuche zu verhindern, bald sah er das Mädchen fast gar nicht mehr.
Er insistierte, wollte die Beziehung erhalten. Die Sache landete zuerst vor Bezirks- und dann vor Obergericht. Beide Behörden bestätigten W.s Rolle als sozialen Vater und setzten ein geregeltes Besuchsrecht fest. Doch die Situation beruhigte sich nicht. Aufgrund der angespannten Lage wurde die Betreuungssituation abgeklärt, in diesem Rahmen entstand das strittige Gutachten, das W. zutiefst erschütterte. Obschon viele der involvierten Fachpersonen die Beziehung als wertvoll für das Mädchen beschrieben hatten, das Mädchen selber danach verlangte, W. weiterhin sehen zu können. Nun stand da: Die Besuchsregelung sei «möglichst schnell aufzuheben».
Hochemotionale Angelegenheit
Konflikte um die Obhut von Kindern häufen sich. Oft enden sie vor Gericht. Es sind hochemotionale, für Aussenstehende schwer zu durchschauende Angelegenheiten. Um Beschlüsse fällen zu können, geben Gerichte und die Kesb deshalb Gutachten in Auftrag – um eine Fachperson beurteilen zu lassen, welche Regelung für das Kind die Beste ist. Fast immer folgen die Gerichte den Empfehlungen der Gutachter, sie haben damit eine machtvolle, aber vollkommen ungeklärte Position. Es gibt keine Regelung, wer solche Gutachten machen darf und welchen Ansprüchen sie genügen müssen. Und überhaupt: Wer kontrolliert die Gutachter?
Eine, die es wissen muss, ist Monika Egli-Alge, Psychologin und Geschäftsführerin des Forio-Instituts, das sich auf Gutachten und «forensisch-psychologischen Fragestellungen aller Art» spezialisiert hat. «Im Prinzip kann jeder in der Schweiz Gutachten machen, das ist ein Missstand», sagt sie. Obschon Gutachten vor Gericht als Beweismittel gelten, gibt es keine einheitlichen Vorgaben, weder zur Methodik noch zur Kompetenz oder Integrität der Gutachter. Jede Behörde wählt ihre Experten selber aus, oft werden auch die beteiligten Parteien um Vorschläge gefragt. «Es gibt Gutachter, die grafologische Gutachten erstellen oder anhand von Kinderzeichnungen sexuelle Missbräuche diagnostizieren wollen. Das ist jenseits», sagt Egli-Alge.
Gutachter lassen sich manipulieren, zumal sie nur wenig Zeit zur Verfügung haben.
Gerade in einem sensiblen Bereich wie der Obhutsfrage von Kindern, kann man besondere Sorgfalt erwarten. Dass ausgebildete Fachpersonen mit der Aufgabe betraut werden, Kinderpsychologen, -psychiater oder Sozialarbeiter einer Erziehungsberatungsstelle. Doch die zuständigen Stellen sind aufgrund der steigenden Nachfrage chronisch überlastet. Anna Murphy, auf Familienrecht spezialisierte Anwältin, sagt: «Zum Teil muss man monatelang auf ein Gutachten warten. Das heisst aber dann auch, dass es sich meist erübrigt, weil sich die gelebte Lösung zementiert hat. Das Kind geht beim einen Elternteil zur Schule, hat da Freunde und Hobbys. Es kann dann gar nicht mehr zum anderen Elternteil umplatziert werden.»
Die Kesb ist kantonal organisiert, daher gibt es keine Zahlen für die gesamte Schweiz. Michael Allgäuer, Präsident der Stadtzürcher Kesb, schätzt, dass seine Behörde jährlich 20 bis 25 Gutachten im Bereich Kinderschutz in Auftrag gibt. Die Auswahl an verfügbaren Gutachtern sei jedoch nicht besonders gross. Und selbst wenn die bevorzugte Gutachterstelle in nützlicher Frist verfügbar ist, kann vieles schiefgehen. Auch bei den Gutachtern «menschelt es», wie Murphy es ausdrückt. Will heissen, auch Gutachter lassen sich manipulieren, zumal sie nur wenig Zeit zur Verfügung haben. «Meistens gibt es mit beiden Parteien je ein 45 Minuten langes Gespräch, eine Spielsequenz, und dann wird interpretiert.» Das Resultat sei oft eher eine Momentaufnahme. Wer also skrupelloser manipuliert und lügt, sitzt am längeren Hebel.
Von einem besonders krassen Fall berichtete im August die «Basler Zeitung». Eine Mutter entzog dem Vater nach der Trennung die Kinder und gaukelte den Behörden vor, sie besitze das alleinige Sorgerecht, sodass der Vater von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen wurde. Dieser schaltete daraufhin die Kesb ein, die wiederum ein Gutachten in Auftrag gab. Auch dort übernahm der Gutachter laut der «Basler Zeitung» die ungefilterte Sichtweise der Mutter. Auch dort wurde ein Vorwurf von Mobbing und Stalking lanciert – was nachweislich nicht zutraf. Auch dort landeten nur jene Informationen im Gutachten, die die These der Gutachterin stützten.
Als Resultat hat der Vater seine Kinder seit drei Jahren nicht gesehen, während die Behörden sich gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben.
Ein Gutachten ist wie ein Beweis
Auch strukturell ist die Frage nach der Macht der Gutachter ungeklärt. Die Gutachter stellen sich auf den Standpunkt, lediglich Empfehlungen abzugeben. Sie seien keine Ermittler, die den Wahrheitsgehalt von Aussagen prüfen müssen. Murphy sagt aber, vor Gericht seien Gutachten Beweismittel, und Gerichte folgten fast ausnahmslos den Meinungen von Fachpersonen: «Sie schieben die Verantwortung ab.» Zwar sei es extrem schwierig, zu entscheiden, was das Beste für das Kind sei, aber von Gerichten müsste erwartet werden, dass sie das Gesamtbild ebenso würdigten. Murphy: «Es braucht Mut, sich über eine Expertenmeinung hinwegzusetzen, denn es besteht stets die Gefahr, dass ein übergeordnetes Gericht den Entscheid umwirft.»
Die Gutachterin im Fall Markus W. ist eine erfahrene Fachperson. Dennoch zeigen die dem TA vorliegenden Akten, wie einseitig sie vorgegangen ist. Sie führte nur ein Gespräch mit W., aber zahlreiche mit der Mutter. Berichte von Fachpersonen, die den Fall zu einem früheren Zeitpunkt betreut hatten und ein anderes Bild zeichneten, wurden weggelassen. Auf Stalking- oder Mobbingvorwürfe hatte die Gutachterin W. nicht konkret angesprochen, so konnte er auch nicht dazu Stellung nehmen, bevor sie ungeprüft ins Gutachten einflossen. Nachdem das Gutachten bei W. eingetroffen war, hatte er freiwillig auf das Besuchsrecht verzichtet, um die Situation nicht mehr weiter anzuheizen. Er hat das Mädchen mittlerweile mehrere Monate nicht mehr gesehen.
15’000 Franken für Gutachten
Zwar gibt es Rechtsmittel, mit denen man sich gegen offensichtlich falsche oder tendenziöse Gutachten wehren kann, aber sie garantieren nicht, dass sich die Situation klären lässt. Und wer auch immer am Ende gewinnt: Das Kind verliert mit Garantie. Und der Steuerzahler. Jedes vom Gericht eingeholte Gutachten kostet zwischen 10 000 und 15’000 Franken. Manche Parteien holen so lange neue Gutachten ein, bis das Resultat ihren Wünschen entspricht. Denn auch Fachleute kommen manchmal zu total konträren Schlüssen.
Umso wichtiger ist es, dass Gutachter methodisch vorgehen und Befunde nachvollziehbar sind. Das Bundesgericht hat die Problematik erkannt und sieht laut seiner Rechtsprechung die Lösung darin, nur noch Psychiater für Gutachten zuzulassen. Das sei aber genau falsch, sagt Egli-Alge, da das Angebot damit noch mehr verknappt würde.
Viel wichtiger wäre ein interdisziplinärer Ansatz bei Gutachten, sodass Fachleute aus Psychologie und Psychiatrie, Neurologie oder Heilpädagogik – je nach Fragestellung – hinzugezogen werden. Ein Vieraugenprinzip wäre ebenfalls wünschbar. «Es ist im Interesse der Gutachter selber, das Vorgehen zu professionalisieren», sagt Egli-Alge. Seit einem Jahr bieten die Fachverbände der Rechtspsychologen und der forensischen Psychiater in Kooperation mit der Hochschule Luzern eine Ausbildung für Gutachter an, der erste Lehrgang wird im Herbst abschliessen. Ein Anfang.
Anm. d. Red.: Frau Egli-Alge wurde in einer früheren Version als Psychiaterin bezeichnet. Tatsächlich ist sie Fachpsychologin Psychotherapie und Rechtspsychologie FSP. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 27.05.2018, 23:12 Uhr